In den letzten Monaten haben wir, angestoßen durch Jonathan Haidts Buch »The Anxious Generation«, intensiv darüber diskutiert, wie Schulen durch Smartphone-Verbote Jugendlichen helfen können, sich besser zu fühlen und produktiver zu sein. Die (problematische) These von Haidt besagt, dass die Verbreitung von iPhones die primäre Ursache für die Zunahme von psychischen Problemen unter Jugendlichen sein muss.
Ich habe schon darüber geschrieben, warum Haidts Argumentation nicht haltbar ist und wo die blinden Flecken liegen. Beim Hören einer Folge des Podcasts von PJ Vogt ist mir klar geworden, dass sich das zentrale Problem einfacher formulieren lässt – und ganz fundamental mit der Schule zu tun hat. Die Folge und ein Transkript findet man hier (herzlichen Dank an Hanna, die mich auf den Podcast aufmerksam gemacht hat). Vogt geht darin der Frage nach, weshalb junge Menschen ein anderes Verhältnis zu KI-Anwendungen haben als er. Insbesondere in Bezug auf das Schreiben von Texten fragt er sich, wie er seinen Kindern und anderen Jugendlichen vermitteln kann, weshalb es wichtig ist, Texte selber zu schreiben. ChatGPT sei kein Taschenrechner, so sein zentrales Argument weil ein Taschenrechner grundsätzlich dasselbe mache wie ein Mensch, der schriftlich rechne – nur schneller. ChatGPT hingegen tue etwas fundamental anderes, sein Einsatz ist also keine Arbeitserleichterung, sondern ein Ersatz für wichtige Prozesse, die rund ums Schreiben stattfinden sollten, aber bei jungen Menschen nicht mehr so ablaufen, wie es ihnen gut tun würde.
Vogt spricht mit Forscher:innen (unter anderem geht er auf diesen exzellenten Bericht ein, der die Perspektive junger Menschen abbildet). Eine davon äußert die folgende Vermutung, welche die korrekte Sicht auf die psychische Belastung von Jugendlichen enthält:
When I look at the increases in anxiety and depression among student age kids, I see a direct correlation between the kinds of things they’re asked to do in school and those emotions and the pressure of doing those things well. And if instead they could just kind of exist and do this work in a way that’s meaningful to them that still helps them build these capacities that are gonna serve them well, I think it could be a catalyst towards increased human thriving. But this is not outsourcing this work to this technology. This is using this technology to allow ourselves to be more human.
Das eigentliche Problem, das Jugendliche «anxious» macht (leider fehlt ein gutes Deutsches Wort für diese Kombination aus Angst, Nervosität, Unrast und Unsicherheit), ist die soziale Situation, in der sie sich befinden. Diese zeichnet sich durch folgende Komponenten aus:
Unsichere Zukunftsperspektive mit brüchigen Lebensentwürfen und Angst vor katastrophalen Szenarien.
Aufwachsen in einer digitalen Transformation, die viele kulturelle Praktiken so schnell ändert, dass Erwachsene das nicht verstehen können und Jugendlichen kaum Hilfe beim Meistern von Herausforderungen anbieten können.
Eine Prüfungskultur, die Selektion und Allokation mit massivem Druck verbindet und Jugendlichen Zukunftsentscheidungen abverlangt, bevor sie dafür bereit sind.
Ein schulisches Umfeld, das langweilige Aufgaben in schwierigen sozialen Situationen anbietet, was zum Gefühl führt, wenig für die Zukunft Bedeutsames lernen zu können.
Lehrpersonen, die am schulischen Lernen als einzigem Weg zu einem glücklichen Leben festhalten, obwohl weder sie noch die Schüler:innen Grund haben, daran zu glauben.
Ein unbeholfener und unreflektierter Einsatz von Technologie in der Schule.
Unklare und sich wandelnde Beziehungsmodelle, für die es kaum Anleitungen gibt. Jugendliche müssen in einer zunehmend technologisch verwalteten Welt ausprobieren, was für sie funktioniert.
Für Verantwortliche ist es nun extrem leicht, die Schuld auf die Technologie zu schieben. Jugendliche sind ständig am Handy, aber nicht, weil sie dumm oder süchtig sind, sondern weil das eine Form von Aufwertung langweiliger Settings darstellt, weil es ihnen hilft, Beziehungen zu knüpfen und weil sie oft überfordert sind.
Die Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit entstehen nicht aufgrund der Technologie, sondern aufgrund des Druck und der sozialen Situation, in der sie sich befinden.
Das Problem ist also, wie so oft, deutlich komplexer. Smartphones an Schulen zu verbieten fühlt sich richtig an, ist aber meist falsch. Es ist eine Symptombekämpfung, die Jugendlichen mental kaum etwas bringt, aber Erwachsenen das Gefühl gibt, etwas zu tun, obwohl sie am eigentlichen Problem nichts ändern können.
Elon Musk und seine Anhängerschaft feiern die Zerstörung von Twitter und sein Ersatz durch X oft mit Argumenten, die mit Meinungsfreiheit zu tun haben. Musk inszeniert sich als Kämpfer gegen Zensur von Plattformen und von Staaten, obwohl er auf seinen Plattformen und durch seine Machtübernahme in den USA unliebsame Meinungen mit aller Kraft unterdrückt.
Diesen Widerspruch lässt sich begrifflich einfach auflösen: Musk übt seine Macht in einem Sichtbarkeitsregime aus. In einem Zeit-Artikel (💰) wird hat Johannes Schneider den Begriff vorgestellt:
Wie also soll man Phänomene nennen, die Zensur und Propaganda ähneln, aber sich nicht in staatlichen Institutionen, sondern in Sphären des Privaten vollziehen? Der Vorschlag hier wäre: Sichtbarkeitsregime. [Der Begriff] beschreibt nicht nur, wie autoritär strukturierte Social-Media-Präsidenten und ihre Netzwerkbetreiber den Diskurs bestimmen, indem sie ihn mit Unrat fluten. Zu etwas grundsätzlich Neuem und spezifisch Bösem wird das schließlich erst in Kombination mit technischen Möglichkeiten, andere Meinungen einfach verschwinden zu lassen. Mit konzentrierter Macht über Öffentlichkeit und dem Know-how, sie auch auszuüben, können plötzlich sehr wenige Personen darüber entscheiden, was überhaupt wahrgenommen wird. Besser – weil zugleich unauffälliger und umfassender – ließen sich Untertanen noch nie lenken.
Denn genau das ist es, was das Sichtbarkeitsregime aus Bürgern am Ende des demokratischen Zeitalters wieder macht, beziehungsweise machen kann: Untertanen. Auf einmal sind wir hoffnungslos vereinzelt, einer gemeinsamen Öffentlichkeit beraubt und damit auch der demokratischen Willensbildung. Zwar gab es sogenannte Gatekeeper, die Informationen gewichten und vorsortieren, schon immer, auch Zeitungen oder Onlinemedien gehören dazu. Doch klassische Medien konnten und können sich gegenseitig Fehler nachweisen, auch blinde Flecken. Den Plattformbetreibern wiederum kann niemand etwas nachweisen, schon gar nicht, dass sie bestimmte Meinungen mit politischem System unsichtbar machen. Dass sich dahinter nicht nur Bugs im Algorithmus verstecken: Wer vermag das sagen? Niemand kennt ihn schließlich – Betriebsgeheimnis, und im Zweifel auch betriebsintern kaum mehr zu durchschauen.
Sichtbarkeitsregime operieren an der Schnittstelle von Macht, Wissen und visueller Praxis. Während Foucaults disziplinäre Logik in Überwachungstechnologien fortlebt, verlangt die digitale Ära neue Analyseinstrumente, um algorithmische Kontrolle und datengetriebene Singularisierung zu erfassen. Judith Butlers Fokus auf Anerkennung bleibt zentral, um zu verstehen, wie Marginalisierung durch Sichtbarkeitsordnungen perpetuiert wird. Zukunftsforschung muss interdisziplinär arbeiten – von der Bildungsethnografie bis zur KI-Ethik –, um die ambivalente Rolle von Sichtbarkeit in Demokratien zu entschlüsseln. Nur so lässt sich ein kritisches Bewusstsein schaffen, das Sichtbarkeit nicht nur als Kontrollmechanismus, sondern auch als Ressource für emanzipatorische Kämpfe begreift.
Musks Sichtbarkeitsregime hat in den letzten Woche eine noch nie dagewesene Potenz erhalten, da es drei Elemente kombiniert:
Eine wichtige digitale Plattform (X), die Musk ohne Einschränkung kontrollieren kann, um Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu nehmen. (Das hat er schon getan, als er bei einer Abstimmung im Parlament eigene Beiträge allen User:innen prominent anzeigen liess und so die Abstimmung direkt beeinflusste.)
Ein leistungsfähiges KI-Tool (Grok).
Zugang zu sämtlichen Regierungsdaten der USA (von Steuererklärungen über Zahlungsdaten bis hin zu Polizei- und Geheimdienstakten).
Musk kann nun die Sichtbarkeit nicht nur über X steuern, sondern auch die Sichtbarkeit von Regierungsdaten beeinflussen. D.h. er kann im grossen Stil Doxing betreiben, also Informationen veröffentlichen, die nicht öffentlich sein sollten. Das ist nur ein Aspekt des Problems: Die Regierungsdaten können auch als Trainingsdaten für Musks KI verwendet werden, die wiederum über X an zahlende Kund:innen verkauft wird.
Musk nutzt die KI und den Zugang zu Regierungsdaten aktuell auch dafür, um bestimmte Institutionen und Dienstleistungen der Bundesregierung der USA einzuschränken oder abzuschaffen. Wie das geschieht, ist genauso intransparent wie die Steuerung der Algorithmen auf digitalen Plattformen.
Schneider schreibt zu den Auswirkungen des Sichtbarkeitsregimes:
Ob ich nur aufgrund eines Glitches bei Instagram plötzlich ständig MAGA- und AfD-Reels angezeigt bekomme oder ob dahinter eine bewusste Strategie steckt: Ich weiß es im Zweifel nicht. Äußere ich trotzdem den Verdacht auf Manipulation, breche ich selbst die Regeln des faktenbasierten Diskurses. Am Ende verstummen wir freiwillig, weil sich eh nichts mehr überzeugend darlegen lässt oder eine Gruppe überhaupt verlässlich unsere Erfahrung teilt.
Mit Musk betrifft das nun plötzlich auch die Regierung: Es ist unklar, ob Probleme entstehen, weil Fehler gemacht wurden – oder ob das Absicht ist. Wer sich dagegen wehren will, kann nicht nachvollziehen, was Musks DOGE-Agentur genau gemacht hat, wie sich das auf die Regierungstätigkeit auswirkt. Musk hat also das Sichtbarkeitsregime von X auf die Bundesregierung ausgeweitet.
Das macht Bürger:innen zu Untertanen. Verkauft wird das als Effizienzgewinn, als Kampf gegen Verschwendung und als Einsatz für die Meinungsfreiheit und Meritokratie – obwohl völlig intransparent ist, was mit Effizienz gemeint ist, wessen Meinungen sichtbar werden oder was als Leistung wahrgenommen wird. Niemand kann überprüfen, was Musk genau macht. Im Zweifelsfall verhält er sich wie bei den Computerspielen, bei denen er betrügt, um besser dazustehen.
Symbolisch für das Sichtbarkeitsregime sind die Faktenchecks, die als Community Notes auf Twitter erscheinen. Auch sie sind kein transparentes, demokratisches Mittel, sondern ein Herrschaftsinstrument des Sichtbarkeitsregimes, das willkürlich gewisse Aussagen relativieren und andere verstärken kann.
Am Schluss der Januar-Ausgabe des Podcasts «Die neuen 20er» findet sich ein Gedanke, der für mich ein zentrales bildungspolitisches Problem auf den Punkt bringt. Die beiden Hosts verwenden das folgende Video als Beispiel, in dem der ehemalige Fussball-Profi Mario Basler sagt, die Punkt-vor-Strich-Regel interessiere ihn nicht. In der Folge bezweifelt er, dass es die Regel früher schon gegeben habe:
Im Podcast wird die Sichtweise Baslers als politische Möglichkeit interpretiert, Fakten als Meinungen umzudeuten. Wenn sich jemand in politischen Diskussionen also auf die Realität bezieht, dann tut man in der Reaktion so, als wäre der Realitätsbezug nur eine mögliche Sichtweise, nur eine von mehreren möglichen Meinungen.
Dieses Vorgehen zeigt sich insbesondere in der Bildungspolitik. Kürzlich hatte ich ein Telefongespräch mit einem FDP-Mitglied, dem es missfiel, dass ich den Parteipräsidenten Thierry Burkart dafür kritisiert habe, dass er in einem naiven Meritokratie-Denken forderte, Schulen müssten an Noten und Prüfungen festhalten. Empirische Forschung zeigt, dass Noten diskriminieren und deshalb nicht als Ausdruck von Leistungen geeignet sind – mehr noch, ,Leistungen‘ an sich sind Konstrukte, keine Realitäten. Die Einsichten tun viele Bildungspolitiker:innen schlicht als Meinung ab, sie stellen ihnen ihr eigenes Gefühl entgegen, dass Noten funktionieren und wichtig seien. Um ihr Gefühl zu legitimieren, stellen sie fundierte, durch Forschung erhärtete Einsichten als Meinung dar.
Dasselbe passierte kürzlich in einem Interview mit einem SVP-Politiker (, der sich zum Thema Bildung äußert. Eine Frage ist symptomatisch für das Bildungsverständnis:
Mit gezielter Frühförderung würden die betroffenen Kinder bereits vor dem Eintritt in den Kindergarten Deutsch lernen. Aber da ist die SVP dagegen. Das passt nicht zusammen.
Kinder sollen in diesem Alter Kinder sein dürfen, und die Eltern sollen selbst entscheiden können. Wir möchten nicht, dass die Kinder noch früher als ohnehin schon in schulischen Strukturen funktionieren müssen.
Das ist wieder ein Beispiel für die erwähnte Struktur: Die SVP fordert, dass Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, Deutsch lernen sollten, bevor sie die Schule besuchen. Auch hier gibt es viele Studien, die klar belegen, dass das besonders wirksam ist, wenn es im Vorschul-Alter passiert. Aber auch das wischt der Bildungspolitiker beiseite, als sei das lediglich eine Meinung, die gleichwertig sei wie seine eigene.
Bildungspolitik ist stark an Erwartungen und Erfahrungen gebunden. Viele Erwachsene stellen sich Schule so vor, wie sie war, als sie diese selber besucht haben. Aus diesem Grund sind viele Sichtweisen auf Schule nicht rational und nicht an Tatsachen orientiert, sondern an Wünschen und Emotionen. Das ist einerseits verständlich, verhindert aber letztlich eine Verbesserung von Bildungsprozessen. Für Menschen, die sich in diesem Bereich engagieren, ist das deshalb besonders frustrierend, weil belastbare Studien und realitätsbezogene Argumente keine Wirkung entfalten, sich gegen gefühlte Wahrheiten und Meinungen nicht durchsetzen können. Das Verfahren, Tatsachen als Meinungen anzusehen, ist in diesem Bereich besonders wirksam.
Leider helfen oft auch Schulversuche und Erfahrungen nicht. In der Schweiz existieren über 20 Schulsysteme nebeneinander, oft mit vergleichbaren Bevölkerungsstrukturen. Es lässt sich recht einfach erkennen, welche Massnahmen wie gut funktionieren. Dennoch nutzt fast jeder Kanton diese möglichen Vergleiche so, dass das eigene System gerechtfertigt werden kann. Bildungspolitiker:innen investieren viel Energie, um Forderungen durchzusetzen, die eine klare Verschlechterung der Bildungsqualität bewirken.
Ein Beispiel ist der Kampf gegen die Integration, den SVP und FDP widern bessern Wissens führen. Mit dem Argument, Lehrpersonen seien durch die Integration überfordert, setzen sie sich für Sonderklassen ein. Dabei ignorieren sie, dass das Problem bei der Arbeitsbelastung der Lehrpersonen und bei den Klassengrössen liegt. Sie tun so, als liesse sich durch eine neue Sortierung der Schüler:innen ein Effizienzgewinn erzielen, der Lehrpersonen entlaste. Eine imaginäre Trennung von ,schwierigen‘ und ,einfachen‘ Schüler:innen ist die Basis dieser Phantasielösung, die aus drei einfachen Gründen nichts bewirken wird: Erstens werden praktisch keine Eltern bereit sein, ihre Kinder in Sonderklassen unterrichten zu lassen und sich mit allen erdenklichen juristischen Mitteln dagegen wehren. Das ist auch nachvollziehbar, weil es zweitens keine ,schwierigen‘ Schüler:innen gibt, sondern Kinder bestimmte Verhaltensweisen unter bestimmten Umständen zeigen – sie verhalten sich dann ,schwierig‘, wenn das Lernsetting nicht zu ihren Lernbedürfnissen passt. Sie in ein anderes Setting zu versetzen, löst dieses Problem nicht. Drittens werden sich keine Lehrpersonen finden, die unter der Bedingung der Kostenneutralität ,schwierige‘ Schüler:innen unterrichten möchten, welche dieses Setting selber gar nicht wünschen.
Eine Diktatur zeichnet sich dadurch aus, dass eine Regierung nicht an Gesetze gebunden ist, sondern diese nach Belieben interpretieren, verändern oder missachten kann. Dagegen gibt es immer ein gewisses Maß an Widerstand. Erfolgreiche Diktaturen können jedoch diesen Widerstand brechen, oft deshalb, weil ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Rechtsstaat Anklang findet.
Der TikTok-Ban ist ein Gesetz, das es Unternehmen untersagt, die TikTok-App nach dem 19. Januar zur Verfügung zu stellen, wenn ByteDance die Plattform nicht Inhaber:innen aus den USA verkauft. Der oberste Gerichtshof hat das Verbot geprüft und ist letzte Woche zum Schluss gekommen, es verletze die Grundrechte der US-Bürger:innen nicht. Im Gesetz ist zwar vorgesehen, dass der Präsident das Verbot 90 Tage lang aussetzen kann, wenn absehbar ist, dass ein Verkauf erfolgen könnte. Trump hat angekündigt, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.
Die Frage stellt sich nun, was nach dem Ablauf der 90 Tage passiert, wenn der Verkauf nicht erfolgt ist. Wenn Trump sich über das Gesetz stellen kann, ist das ein diktatorischer Akt, der nicht rechtfertigt werden kann. Er ist an sich harmlos, Menschen leiden nicht darunter, dass TikTok nicht verboten ist. Viele wünschen sich, die App weiterhin nutzen zu können, und würden aus diesen Gründen akzeptieren, dass Trump sich so über den Rechtsstaat stellt. Das ist deshalb problematisch, weil Trump das in vielen anderen Punkten auch tun dürfte. Letztlich fehlt es an einer Möglichkeit, Gesetze durchzusetzen, wenn der Präsident sie ausser Kraft setzt.
Das ist beängstigend. Dass es Trump gelingt, das so deutlich mit den Anliegen vieler junger Bürger:innen zu koordinieren, ist ein Lehrstück darüber, wie Diktaturen an die Macht kommen: Sie tun das, was viele Menschen sich wünschen. Das Beharren auf rechtsstaatlichen Prinzipien erscheint im Moment als Willkür und Pedanterie, die diktatorischen Wege als vernünftig, pragmatisch und angebracht.
Im Rückblick fragt man sich immer, wie es bei Diktaturen so weit hat kommen können. Heute sehen wir die eine Antwort. Die andere werden wir in den nächsten Tag auch sehen, wenn bewaffnete Agent:innen Migrant:innen verhaften, einsperren und deportieren dürften. Damit erzeugt Trump Angst. Das sind die beiden Mechanismen, mit denen Diktaturen funktionieren: Scheinbar harmlose Vorteile für viele und Angst für alle, die sich dagegen wehren würden. Beide bedingen einander: Wer Angst hat, redet sich ein, das sei doch alles nur harmlos; wer von den Vorteilen profitiert, kann ausblenden, wie grausam diese Herrschaft für viele andere ist.
Frustrierend ist, wie wenig die Biden-Administration gegen die kommende Diktatur unternommen hat. Es wirkt so, als hätten viele Demokrat:innen nach Spielregeln gespielt, die Trump längst ausser Kraft gesetzt hat. Biden hätte schon nur bezüglich TikTok Trump ins Leere laufen lassen können und selber den Ban verhindern können. Er hätte Trump verurteilen und einsperren können. Er hätte den Supreme Court erweitern und ausbalancieren können. Usw. Das ist dann wohl der dritte Bestandteil: Vertreter:innen des Rechtsstaats merken zu spät, dass er ausser Kraft gesetzt wird. Und wehren sich nicht dagegen.
Wer schon einmal einen Elternabend zu medienpädagogischen Themen durchgeführt hat, kennt das Gefühl: Sobald problematische Aspekte der Mediennutzung junger Menschen zum Thema werden, geht ein Ruck durch die Eltern. Sie hören aufmerksam zu, stellen Fragen – was Redende sagen, wirkt stärker, als wenn sie über unproblematische Zusammenhänge sprechen. So entsteht eine Versuchung: Wer intensiv über Gefahren spricht und dabei in die Rolle der Warnerin oder des Warners schlüpft, entfaltet Wirkung. Es erscheint Eltern wichtig, informiert zu sein über Gefahren, die im Netz oder auf den Bildschirmen ihrer Kinder lauern – und einer Fachperson zuzuhören, die auch Tipps geben kann, wie man diesen Gefahren begegnet.
Wo liegt das Problem? Ist doch gut, könnte man meinen, wenn Eltern «sensibilisiert» werden für das, was ihren Kindern möglicherweise passiert. Ich zeige es an einem Beispiel, das auch als Illustration für diesen Beitrag dient: Hilal, über deren Rolle auf Instagram ich bereits vor ein paar Jahren einmal geschrieben habe, warnt aktuell in ihren Reels auf Instagram vor Snapchat – z.B. hier. Snapchat, so der Titel ihres Reels, sei «die gefährlichste App für Kinder». Das begründet sie wie folgt:
Das Flammen-Feature führe zu Druck, der Kinder dazu drängen würde, auch intime Bilder hochzuladen.
Die Standort-Funktion werde von Pädokriminellen genutzt, um Kinder zu suchen und Übergriffe zu planen.
Auf Snapchat seien Kinder problematischen Inhalten ausgesetzt.
Auf Snapchat würden Kinder von Pädokriminellen (verbal) misshandelt.
Das ist alles nur dann nicht falsch, wenn man extreme Beispiele raussucht. Die gibt es und damit würden Hülya und alle, die ihr zustimmen, auch argumentieren, dass die Warnung an die Eltern deshalb berechtigt ist. Die Grundeinsicht ist aber: Wir würden nicht vor dem Schulweg, vor Skifahren oder Eislaufen warnen, indem wir die krassesten Unfälle heranziehen, die sich dabei je ereignet haben. Kinder sterben bei all diesen Aktivitäten, sie bestimmen aber den Fokus der Eltern nicht.
Die Snapchat-Nutzung von Kindern und Jugendlichen sieht im Normalfall so aus: Sie nutzen die App, um Freund:innen und losen Bekannten viele Bilder zu schicken und den Kontakt zu halten. Hauptattraktion der App ist die soziale Eingebundenheit und das Spiel mit der aktuellen Realität und den Filtern. Flammen führen zu einem leichten sozialen Druck, der aber nichts damit zu tun hat, welche Bilder hochgeladen werden: Auch leere Bilder dienen dazu, die Strekas zu erhalten. Zudem nutzen viele Jugendliche Snapchat primär zum Chatten. Auf der Snap-Map sehen sie die Kontakte, die ihnen wichtig sind; viele sind nicht mit Fremden verbunden. Die konsumierten Videos entsprechen den eigenen Interessen, sie haben mit Idolen und Hobbies zu tun, nicht mit menschlichen Abgründen.
Überwachung digitaler Geräte ist ein echtes Problem, mit dem sich junge Menschen auseinandersetzen sollten. Dabei helfen aber Eltern nicht, die sich auf unwahrscheinliche, für viele Jugendliche auch absurde Gefahren konzentrieren. Sie müssen lernen, dass sie den Standort mit niemandem teilen müssen – aber sie dürfen das auch tun, wenn sie sich dabei wohl fühlen. Sie müssen lernen, dass sozialer Druck existiert und es zur Gesundheit gehört, Strategien zu erlernen, wie man mit diesem Druck umgeht.
Diese Lernerfahrungen verhindern einseitige, zugespitzte Warnungen. Eltern werden dadurch nicht «sensibilisiert», sondern sie entwickeln Ängste und versuchen etwas zu verhindern, was sie gar nicht verhindern können: Dass Kinder populäre Apps (heimlich) nutzen. Was sie brauchen ist ein echtes Verständnis für die komplexen Zusammenhänge zwischen sozialem Umfeld, Entwicklungspsychologie und Mediennutzung.
Lehrer:innen wie Hülya tappen in die Falle des pädagogischen Populismus. Sie dramatisieren Situationen und spielen sich als Retter:innen auf, weil sie die damit verbundene Aufmerksamkeit mögen (und davon weniger erhalten, wenn sie differenziert und sachlich bleiben). Damit erzeugen sie bei Eltern ein falsches Bild der Realität, das zu einer Belastung für Kinder und Jugendliche wird. Gleichzeitig immunisieren sie sich gegen diese Kritik, indem sie betonen, wie wichtig es sei, Eltern aufzuklären – gerade weil ganz schlimme Dinge passieren würden, gegen die man nicht genug tun könne.
Fazit: Wenn Lehrpersonen einseitig warnen, Gefahren zuspitzen und Eltern auffordern, ganz gut aufzupassen – dann sollte man ihnen diesen Beitrag zeigen und sie bitten, sich zu mässigen, sich einzulesen, mit jungen Nutzer:innen von Medienangeboten zu sprechen und differenzierter darüber zu berichten. Damit wäre allen geholfen.
Eine naive Sicht auf demokratische Prozesse geht davon aus, dass Themen aufgrund von Diskussionen in der Zivilgesellschaft in die Politik gelangen, wo sie dann bearbeitet werden, damit demokratische Entscheidungen gefällt werden können. In der Realität verhält es sich so, dass jahre- oder jahrzehntelange Prozesse von Interessengruppen dazu führen, dass Themen in den Fokus der Öffentlichkeit gelangen und sich die Meinungen der Bevölkerung dazu so verändert, wie das diese Interessengruppen gerne hätten. Damit ist nichts Verschwörungstheoretisches gemeint: Das betrifft NGOs, welche die Biodiversität schützen wollen, Gewerkschaften, welche Rechte von Arbeitnehmenden gesetzlich absichern möchten, Waffenlobbyist:innen, welche einen Verfassungszusatz so uminterpretieren, dass es auch für die Nutzung von Maschinengewehren kaum Bewilligungen braucht bis hin zu Fahrradaktivist:innen, die gerne mehr Radwege in Städten hätten.
In der Schweiz gibt es eine Kampagne zu Erhöhung der Studiengebühren an Hochschulen (sie liegen heute bei knapp 1000 Franken pro Semester, mit kantonalen Schwankungen). Dieses Anliegen stiess zunächst auf breite Ablehnung, im Kanton Luzern wurde ein erster Vorstoss vor drei Jahren von einer breiten politischen Allianz zurückgewiesen. Mittlerweile hat eine Expertengruppe um Serge Gaillard im Auftrag von Bundesrätin Keller-Sutter aber eine «Stärkung der Nutzerfinanzierung der kantonalen Hochschulen» vorgeschlagen (Bericht hier), mit der das Budget des Bundes um 120 Millionen entlastet werden sollte. Konkret bedeutet das, dass eine Erhöhung der Studiengebühren auf Bundesebene beschlossen werden dürfte, um andere Ausgaben (insbesondere für die Armee) zu ermöglichen.
Im folgenden Beitrag zeichne ich nach, wie eine Kampagne innerhalb der letzten drei Jahre diese Entwicklung ermöglicht hat – und wer dafür verantwortlich ist. Primär ging es um die Idee, rückzahlbare Studiengebühren einzuführen (sogenannte «nachgelagerte Studiengebühren») – eine Idee, die sich mit verschiedenen Argumentationslinien verbinden liess. Dadurch war das Thema während drei Jahren so präsent im medialen Diskurs der Schweiz, dass heute möglicherweise die Bereitschaft vorhanden ist, einer generellen Erhöhung zuzustimmen.
Timeline
2004 hat Economiesuisse ausführlich darüber nachgedacht, Studiengebühren zu erhöhen (primär über rückzahlbare staatliche Darlehen). Der Bericht findet sich hier. Diese Forderungen haben politisch wenig bewirkt, so dass bis im Dezember 2021 das Thema rückzahlbarer Studienebühren fast nur in Bezug auf ausländische Studien in den Schweizer Medien präsent war. (Im Rahmen der «Lausanner Initiative» wurde in den 1970er-Jahren diskutiert, allen Studierenden Stipendien zu gewähren, damit sie nicht von der Unterstützung ihrer Eltern abhängig wären. Diese Stipendien wären auch teilweise rückzahlbar gewesen. Die Idee, Auslagen nachträglich einzufordern, ist also selbstverständlich älter, sie wird bei Stipendien, Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen in der Schweiz )
Der Auftakt zur Diskussion erfolgt im Dezember 2021 mit einem durch die Bonny Stiftung finanzierten Gastbeitrag in der NZZ (💰). Verfasst haben ihn der Bildungsökonom Stefan Wolter (FDP-Mitglied) und die Arbeitsökonomin Conny Wunsch. Den Vorschlag formulieren sie wie folgt:
Die Idee: Wer eine Tertiärausbildung absolviert, aber dann lediglich Teilzeit oder überhaupt nicht arbeitet, soll die vom Staat finanzierten Bildungskosten zurückzahlen müssen. […] Ich kann Ihnen ein Beispiel geben. Eine tertiäre Ausbildung kostet 100’000 Franken – und diese Kosten sollen über die Mehrsteuern kompensiert werden. Als Vergleich dient eine Person ohne tertiäre Bildung, die jährlich 5000 Franken Einkommensteuern zahlt. Der Akademiker müsste bei einer Abzahlungsfrist von beispielsweise 25 Jahren also jährlich 4000 Franken mehr Einkommensteuern zahlen, damit er nicht auf Kosten der Nichtakademiker studiert hat. Zahlt er das oder mehr, spürt er nichts von der Steuer. Zahlt er in einem Jahr aber nur 7000 Franken, müssten 2000 Franken nachgezahlt werden. Das ist die nachgelagerte Studiengebühr. Wolter/Wunsch, 2021
Die NZZ-Beilage, die den Beitrag enthält, basiert auf einer «Ideenwerkstatt», an der die NZZ, das IWP sowie die Bonnie Stiftung beteiligt waren. Der Think Tank, bestehend aus Beat Brechbühl (Bonny Stiftung), Altbundesrat Kaspar Villiger, Peter A. Fischer (NZZ) und Christoph Schaltegger (IWP) initiiert diese Kampagne und zeigt gleichzeitig, wie Interessensgruppen, Medien, Politik (insbesondere die FDP) und Wissenschaft dabei kurzgeschaltet werden.
Im Februar 2022 greift Gaudenz Zemp (FDP), der Direktor des Gewerbeverbands des Kantons Luzern, die Idee auf. Er bringt ein Postulat in den Luzerner Kantonsrat, das wenig Unterstützung erhält. In einem Portrait in der NZZ (💰) schreibt Erich Aschwanden:
Eigentlich ist es erstaunlich, dass die Idee der nachgelagerten Studiengebühren noch nicht von einer Politikerin oder einem Politiker auf dem nationalen Parkett aufgenommen wurde. Aschwanden, 2022
Die nächste Diskursschleife wird von Andrea Franc eingeleitet. Die Historikerin hatte für Economiesuisse gearbeitet. Sie nimmt eine Argumentationslinie auf, die sich schon bei Wolter/Wunsch findet: Studierende würden von Ausgaben profitieren, die «Arbeiter:innen» tätigen würden. Franc spitzt dieses Argument so zu, dass es besonders Geisteswissenschaftler:innen trifft, die ihren Schilderungen gemäss im Studium wenig leisten würden. Franc schreibt bereits 2021 im Schweizer Monat und in der NZZ am Sonntag (💰) über das Thema. Breit rezipiert werden ihre Thesen aber erst nach einem Interview, das Katharina Fontana und Christina Neuhaus für die NZZ führen (💰). Franc verbindet darin verschiedene Argumentationslinien, insbesondere geht sie nicht nur auf Umverteilung ein, sondern spricht auch die Altersvorsorge an und stellt in den Raum, dass in der Schweiz zu viele Geisteswissenschaftler:innen ausgebildet würden:
Der Sozialstaat ermuntert gut ausgebildete Leute geradezu, wenig zu arbeiten. Wer als 38-jähriger Romanist mit Teilzeitpensum in einer Stadt wie Zürich wohnt, profitiert von ermässigten Kita-Tarifen, vielleicht erhält er noch eine städtische Wohnung, und die Krankenkassenprämien werden verbilligt. Für den Einzelnen mag dieses Modell stimmen. Doch was passiert, wenn die Heerscharen von Geistes- und Sozialwissenschaftern dereinst pensioniert werden? Viele werden keine genügende Altersvorsorge haben, das Erbe ist vielleicht schon aufgebraucht, sie werden Ergänzungsleistungen benötigen. Andrea Franc, Interview 2022
Wolter und Franc postulieren beide, Akademiker:innen, welche die falschen Fächer studierten und zu wenig arbeiteten, würden den «Gesellschaftsvertrag» verletzen. Sie suggerieren damit, dass ein Hochschulstudium nur Menschen zustünde, die über Steuern für den Staat Einnahmen generieren.
In einem NZZ-Kommentar (💰) verstärkt der mittlerweile zu Avenir Suisse gewechselte Christoph Eisenring dieses Nutzen-Argument: Das Studium der Geisteswissenschaften «lohne sich» für die Gesellschaft nicht, insbesondere deshalb, weil zu viele Akademiker:innen aus diesen Fächern nur Teilzeit-Tätigkeiten nachgingen.
Der Beitrag von Franc löst eine Kritik-Welle aus, die sich insbesondere auch darüber empört, wie Franc das Verhalten von Studierenden beschreibt. Ihre Positionierung enthält alle Elemente, um die Diskussion in den Boulevard zu tragen, was auch passiert.
2023 gelangt das Thema der Studiengebühren mehrmals in die Medien. Ein Ausgangspunkt war die Debatte über Teilzeitarbeit, die auch in der NZZ breit geführt wurde. Exemplarisch kann der Kommentar von Katharina Fontana (💰) zitiert werden, in dem sie in der Schweiz eine «Dolce-Vita-Gesellschaft» sieht.
Im März 2023 publiziert Avenir Suisse eine «Studie» (pdf), in der nachgelagerte Studiengebühren gefordert werden. Florence Mauli, Marco Salvi und Patrick Schnell greifen in der Einleitung den «Gesellschaftsvertrag» auf und sprechen von der «fiskalischen Rendite» des Hochschulstudiums, die nicht mehr gegeben sei, wenn Akademiker:innen weniger als 70% arbeiten würden. Sie suggerieren damit wie Wolter und Franc, es gebe eine Art Verpflichtung von Studierenden, ihr Studium über Steuern zurückzuzahlen. Diese wollen sie über nachgelagerte Studiengebühren im Gesetz verankern und Akademiker:innen einkommensabhängig dazu verpflichten, die Kosten für ihr Studium nachträglich abzubezahlen.
Florence Mauli äusserte sich im Anschluss an diese Studie mehrmals als Vertreterin von Avenir Suisse gegen eine zusätzliche Akademisierung der Schweiz, sie setzte sich insbesondere gegen ein Master-Studium für Lehrpersonen und gegen eine Erhöhung der Gymnasialquote ein. Damit verband sie die Forderung nach erhöhten Studiengebühren mit einer Beschränkung der Akademisierungsquote und eine Stärkung der Berufsbildung.
Einen weiteren Vorstoss lanciert der Schweizerische Arbeitgeberverband, der einen 8-Punkte-Plan gegen den Fachkräftemangel publiziert (pdf). Darin betont der SAV die Bedeutung der Berufslehre und spielt, wie schon Wolter und Franc, Nicht-Akademiker:innen und Akademiker:innen gegeneinander aus. Zu viel Teilzeitarbeit, zu lange Studiendauer und falsche Studienwahl führten dazu, dass Menschen, die selber nicht studiert haben, das Studium anderer finanzieren müssten. Dagegen schlägt der SAV folgende Lösung vor:
Akademikerinnen und Akademiker sollen ihre Studienkosten amortisieren müssen. Mögliche Modelle wären exponentiell steigende Studiengebühren zum Beispiel nach zehn Semestern, nachgelagerte Studiengebühren oder Darlehenssysteme. Mit solchen Instrumenten kann erreicht werden, dass vermehrt Studienrichtungen eingeschlagen werden, die im Arbeitsmarkt gefragt sind und die Gesellschaft nicht für unnötige Bildungskosten aufkommen muss. 8-Punkte-Plan SAV, April 2023
Der Plan wird in verschiedenen Medien vorgestellt, in der NZZ publiziert aber Christin Severin einen kritischen Kommentar (💰) dazu, in dem Fehlüberlegungen in der Kritik an Teilzeitarbeit Raum erhalten.
Im September 2023 schlägt der SVP-Franktionschef Thomas Aeschi in einem Tages-Anzeiger-Interview (💰) vor, die Studiengebühren generell zu erhöhen – um dann Akademiker:innen mit hohen Steuerbeiträgen die Kosten später teilweise zurückzuerstatten. Das Interview ist insofern bemerkenswert, als dass Aeschi die Forderung einerseits mit der Frage ausländischer Arbeitskräfte verbindet, andererseits auch eine Abschaffung des Numerus Clausus für Studiengänge im Bereich Medizin fordert. Wie sich zeigen wird, sind heute beide Vorschläge mehrheitsfähig und dürften zu einer Reform der Hochschullandschaft führen. Die Ökonomin Monika Bütler hat Aeschis Vorschläge (ebenfalls im Tages-Anzeiger, 💰) diskutiert und die Idee aufgebracht, dass die Studienjahre nicht an die AHV-Beitragsjahre angerechnet werden sollten, was dazu führen würde, dass Akademiker:innen erst später in Rente gehen könnten.
Im Januar 2024 äussern sich zwei Mediziner in der NZZ (💰) spezifisch zur Frage, wie sich die Kosten des Medizinstudiums rechtfertigen liesse, zumal auch Ärzt:innen zuweilen Teilzeittätigkeiten ausüben würden.
Danach verschiebt sich jedoch der Fokus auf Verhandlungen mit der EU und die Studiengebühren für Ausländer:innen. Der ETH-Rat diskutiert im März eine Verdreifachung der Studiengebühren, die letztlich aber abgelehnt wird. In mehreren Medienberichten wird die Frage diskutiert, ob es an Schweizer Hochschulen zu viele ausländische Studierende gebe. In der NZZ (💰) schreibt Hansueli Schöchli im Mai 2024: «Das Studium an den staatlichen Hochschulen ist fast sündhaft billig.» Zur gleichen Zeit hält Rico Bandle in der Sonntagszeitung (💰) fest: «Die ETH ist 40-mal billiger als andere Top-Unis.» Der internationale Vergleich von Hochschulen wird zum Standardargument, so dass es aus zwei Gründen einleuchtet, die Studiengebühren für Ausländer:innen zu erhöhen: Aus einer Anpassung an Markt einerseits, zur Beschränkung der Studierenden andererseits. Im November 2024 nimmt die EU die Gleichbehandlung von EU-Studierenden als Thema in die Rahmenverhandlungen mit der Schweiz auf, so dass eine einseitige Erhöhung für ausländische Studierende zumindest für EU-Staatsbürger:innen nicht mehr möglich erscheint.
Im Januar 2025 schreibt Christina Neuhaus für die NZZ eine Titelgeschichte (💰). Der Titel:
Kunstgeschichte studieren, weniger arbeiten, früher in Rente: Die Schweizer sind zu Konsumenten des Staats geworden Neuhaus 2025
Diese Geschichte markiert vorerst den Abschluss einer Kampagne, welche die politische Haltung zu Studiengebühren in der Schweiz massiv verändert hat. Blickt man in die Publikationen, so sieht man Artikel im Schweizer Monat, im Nebelspalter, in der Weltwoche, in der NZZ und in der Sonntagszeitung, in welchen das Thema immer und immer wieder aufgegriffen worden ist. Exponent:innen wie Wolter und Franc wurden in diesen Publikationen immer wieder als Gewährsleute präsentiert, welche Glaubwürdig für eine Einschränkung der Bildungsrechte der Schweizer Bevölkerung benutzt werden. Hinter den Aussagen von Neuhaus steht grundsätzlich die Haltung, dass die freie Studienwahl nicht zu optimalen Ergebnissen führt, dass der ‚Markt‘ nicht genügend reguliert, wer was studiert. Die politisch damit verbundene Forderung ist eine stärkere Lenkung – über Gebühren.
Die Idee der Kampagne
Grundsätzlich hatte die Kampagne die Funktion, ein Studium als eine staatliche Investition zu framen. Die Ausgaben des Staates müssen sich, so die verbreitete Leitvorstellung, fiskalisch lohnen, indem Akademiker:innen mehr Steuern bezahlen als ihr Studium kostet. (Ausgaben für ein Studium können auch über ein Recht auf Bildung begründet werden, mit dem auch andere Bildungsausgaben rechtfertigt werden.)
Die zentrale Figur hinter der Kampagne ist Christoph Schaltegger. Er war in der Expertengruppe, welche die Beilage lanciert hat, in der das erste Studiengebühren-Interview mit Wolter publiziert wurde – und er ist Mitglied der Gaillard-Expertengruppe, welche eine Erhöhung der Studiengebühren über eine Reduktion der Bundesbeiträge empfohlen hat.
Die Kampagne zeigt, dass es letztlich nicht primär um Argumente geht. Fachkräftemangel, Teilzeitarbeit, Berufsbildung, ausländische Studierende, Langzeitstudierende, Umverteilung etc. sind alles Möglichkeiten, um staatliche Leistungen abzubauen und Gebühren für Studierende zu erhöhen. In der Schweiz wurde das so lange versucht, bis eine der Argumentationslinien – mit Hilfe der EU – verfangen hat. Entscheidend war wohl letztlich, dass nachgelagerte Studiengebühren in der SVP nie eine breite Unterstützung genossen hatten, während das über die xenophobe Benachteiligung ausländischer Studierender gelang.
Vorgehen
Ich habe für diesen Beitrag mit Swissdox recherchiert und die Texte dann in einem NotebookLK bearbeitet, um Timelines und Zusammenhänge herauszuarbeiten.
Thilo Mischke ist ein Journalist, der eine wichtige Sendung hätte moderieren sollen. Die Ankündigung seiner Anstellung führte zu Kritik, insbesondere deshalb, weil Mischke sich in Publikationen und öffentlichen Gesprächen sexistisch geäußert hatte und diese Äußerungen nie seriös reflektiert hatte. Eine genaue Aufarbeitung der Kritik finden interessierte im unten verlinkten Podcast bzw. in der dazugehörenden Dokumentation.
Ich möchte in diesem Beitrag den Fall nicht aufrollen, sondern einen Aspekt beleuchten, der mich seit dem Aufkommen von Social Media irritiert. Was auch immer Menschen im Netz über andere Menschen, Themen oder Institutionen schreiben – es kann ins Produktive gedreht werden, wenn es als Debatte angenommen wird. Viele der Blogposts auf dieser Seite sind entstanden, nachdem Mitlesende Kritik an dem geübt haben, was ich hier geschrieben habe. Vieles, was ich im Netz schreibe, löst negative Reaktionen aus; teilweise auch unsachliche, fiese. Was mich weiterbringt – und meiner Meinung auch andere weiterbringen würde – ist eine Reduktion auf den sachlichen Kern: Was stört andere genau? Wie lassen sich die Differenzen erklären? Was übersehe ich?
Wer diesen produktiven Kniff nicht verwendet, ist oft verletzt und beklagt die Debatten-Kultur im Netz. Die Rede von «Shitstorms» oder radikalisierten Bewegungen, von Trollen oder dem fehlenden Augenkontakt oder der Längenbeschränkungen sind alles Wege, um vom eigentlichen Kern abzulenken.
Die ausgebildeten Journalist:innen beim ARD machen in ihrer Reaktion auf die Kritik an der Anstellung von Mischke genau das. Sie sprechen von einem «Rufschaden» und einer «heftigen Diskussion», die «relevante Themen» «überschatte». Das ist sehr schade: Gerade die Redaktion von TTT hätte erkennen können, dass die Diskussion ein relevantes Thema ist, das sie ganz leicht hätte ins Produktive wenden können. Das gilt auch für Mischke: Dass er nicht sofort verzichtet hat, lässt sich für mich nicht erklären, noch weniger aber verstehe ich, weshalb er die Vorwürfe nicht als sachliche Kritik aufgenommen und darauf geantwortet hat.
Ich meine nicht, dass Mischke auf einer großen Bühne ein Streitgespräch mit Kritiker:innen inszenieren sollte. Es geht nicht um Schaukämpfe, sondern darum, das ernst zu nehmen, was andere einwenden, und darauf seriös zu antworten. Wenn das sexistische Buch fiktiv ist – warum hat Mischke es dann in Podcasts und anderen Sendungen als nicht-fiktiv ausgegeben? Wenn Mischke einsieht, dass das Buch und die darin geschilderten Vorgänge problematisch und übergriffig sind – was hat er getan und was tut er, um das in Ordnung zu bringen?
Das wäre alles nicht so schwierig. Letztlich irritiert mich, wie viele Menschen bereit sind, anderen die Schuld für eine schlechte Debattenkultur zuzuschreiben, statt selber online konstruktive Diskussionen zu führen. Das geht, so meine Erfahrung, auf jeder Plattform, in jedem Format. Wer bereit ist, anderen zuzuhören und andere Sichtweisen anzunehmen, findet Wege, darauf so zu antworten, dass Lerneffekte entstehen können.
Immer wieder fragen mich Medienschaffende nach meiner Einschätzung zu Social-Media-Verboten. Ausgangspunkt sind oft Studien, die negative Effekte von digitalen Plattformen zu belegen scheinen oder dokumentieren, wie viele Menschen solche Verbote befürworten würden (meist aber nur für Jugendliche oder Schulen, nicht für sich selber).
In meinen Antworten weise ich immer wieder darauf hin, dass sich Probleme nur lösen lassen, wenn Betreiber:innen von Social-Media-Plattformen ihrer Verantwortung nachkommen müssen. Der Staat fordert Verantwortung nicht mit idealistischen Aufrufen, sondern mit Gesetzen ein. Die Social-Media-Unternehmen sagen allen, die es hören wollen, dass sie sich eigentlich gar nicht regulieren liessen bzw. schon alles in ihrer Macht stehende täten, um Menschen vor problematischen Inhalten und Mechanismen zu schützen.
Wir alle wissen, dass das nicht stimmt. Was auch Medienschaffende leider oft ausblenden, ist der einfache Weg, auf dem Plattformen dazu gebracht werden können, Regeln einzuhalten: Indem man sie daran hindert, Geld zu verdienen.
Könnte ich Gesetze vorschlagen und verabschieden, würde ich regulieren, wer in der Schweiz Werbung verkaufen und Werbung einblenden darf – ganz ähnlich, wie Anlageberatung reguliert ist. In diesem Kontext würde ich Folgendes von solchen Unternehmen einfordern:
Eine öffentlich einsehbare Datenbank mit allen Werbeanzeigen, die in der Schweiz angezeigt werden – mit Daten, wie lange und und für wen diese Botschaften sichtbar waren.
Vorgaben, welche Plattformen erfüllen müssen, bevor sie Werbeanzeigen schalten dürfen: a) eine Redaktion mit einem Schweizer Büro, die für User:innen und Gesetzgeber:innen erreichbar ist b) eine vom Unternehmen finanzierte Ombudsstelle, die Beschwerden in vernünftigen Fristen abarbeitet c) Einhaltung von Jugendschutz-Vorgaben
Eine Abgabe von 2 Prozent der Werbeeinnahmen zur Finanzierung von Prävention von Störungen und Krankheiten, die mit digitalen Plattformen zusammenhängen.
Klare Vorgaben bezüglich legaler und illegaler Werbung.
Heute blendet selbst Meta Werbung ein, die auf keinem anderen Werbekanal legal wäre – unten ist ein Beispiel für Fake-Shirts zu sehen, die in Asien hergestellt und von dort aus verschickt werden, obwohl das in der Schweiz nicht legal ist. Ähnlich funktionieren Anzeigen für Glückspiel, Sportwetten und medizinische Präparate.
Leider gibt es keine politische Bereitschaft, etwas Wirksames zu unternehmen, um die digitalen Unternehmen zu regulieren. Lieber phantasiert man von Smartphone-Verboten für junge Menschen oder Schulen, die weder umsetzbar sind noch ein Problem lösen. Gesetze müssen sich an Unternehmen wenden, nicht an Kund:innen. Illegale Angebote müssen kriminalisiert werden, nicht ihre Nutzung.
Erstaunlich finde ich, dass die großen Verlage im Kampf gegen den Verlust an Anzeigen nicht diesen Weg beschritten haben, sondern über abstrakte und widersprüchliche absurde Urheberrechtsargumente versucht haben, eine Beteiligung zu erstreiten.
Kürzlich hat ein Vater berichtet, wie belastend die Probezeit im Langzeitgymnasium für seinen Sohn und seine Familie ist. In seinem Beitrag schreibt er:
Das Hauptproblem: Mein Sohn hat nie gelernt, zu lernen.
Diese Formulierung und die dahinterstehende Denkweise sind verbreitet. Das ist problematisch, ja absurd: Menschen lernen, Kinder lernen, Jugendliche lernen. Das hat zunächst mit Schule nichts zu tun. Lernen ist ein Grundbedürfnis, ein biologisch und sozial tief in die menschliche Natur eingebetteter Vorgang. Auch wenn Schüler:innen etwas tun, was überhaupt nichts mit Unterricht zu tun hat (schwatzen, gamen, Netflix schauen, sich schminken etc.), lernen sie ständig.
Menschen müssen nicht lernen zu lernen. (Ich müsste lernen, dass vor Infinitivnebensätzen neu immer ein Komma steht.) Menschen lernen lernen, wie das Gehen lernen oder Geschmack für Speisen entwickeln, die sie zuerst nicht mögen.
In Bezug auf Schule meinen Menschen mit dem Satz, dass spezifische Techniken der Prüfungsvorbereitung nicht beherrscht werden. Diese werden dann – und hier wird es absurd – mit Lernen gleichgesetzt. Lernen meint Prüfungsvorbereitung, und zwar nicht irgendeine, sondern spezifisch die Vorbereitung auf Closed-Book-Prüfungen, die umfangreiche Inhalte von Skripten abfragen.
Menschen müssen lernen, wie man sich auf solche Prüfungen vorbereitet, wenn die Prüfungen für sie wichtig sind. Und das sind sie an Gymnasien, sie entscheiden, wie im Fall des Sohnes des Autors, über den Verbleib an der Schule.
Der Satz «Kinder müssen lernen, zu lernen» gibt nun vor, eine sehr unnatürliche Form des Lernens, die es eigentlich nur in der Schule gibt, sei die eigentliche Form des Lernens. Das ist sehr schräg, ein Denkfehler. Lehrpersonen müssten überlegen, wie Kinder gut lernen können – und sie dabei unterstützen. Stattdessen geben sie bestimmte Formate vor, ohne sie zu hinterfragen, und verlangen von Eltern und Schüler:innen, dass sie ihre Lernprozesse daran anpassen.
Kürzlich habe ich mit einem Schüler gesprochen, der in seiner Maturarbeit untersuchen will, wie stark die Laptops, welche Schüler:innen an Gymnasien nutzen, sie vom Lernen ablenkten. Er hat an seiner Schule eine Umfrage durchgeführt und in der Auswertung bemerkt, dass für viele Schüler:innen diese Ablenkung gross ist und sie sich wünschten, es gäbe sie nicht.
Dieses Gefühl teilen viele Lehrpersonen. Sie beobachten, dass viele Schüler:innen dazu neigen, im Unterricht den Laptop entweder dafür zu nutzen, um Arbeiten aus anderen Fächern zu erledigen – oder darauf auf Unterhaltungs- und Ablenkungsangebote zugreifen, die es ihnen erschweren, Lehrvorträgen zu folgen oder an Unterrichtsgesprächen teilzunehmen. Einzelne Schüler:innen brauchen den Laptop als eine Ablage für das Smartphone, dessen Nutzung in BYOD-Settings oft nicht verboten wird, weil der Zugang zu Bildschirmen und digitalen Angeboten ja ohnehin erlaubt ist. Also geben Schüler:innen zuweilen vor, am Laptop Notizen zu machen oder zu recherchieren, während sie an ihrem Handy spielen oder chatten.
Die Wahrnehmungen von Lehrenden und Lernenden können mit einer aktuellen Befragung von über 5000 Schüler:innen abgeglichen werden. Darin geben knapp 40% an, sie seien schneller abgelenkt, wenn sie mit digitalen Medien arbeiten – nicht die Mehrheit, aber doch ein relevanter, ja beträchtlicher Anteil.
Wenn ich im Folgenden den Befund etwas genauer analysiere, dann mit dem Ziel, Schlüsse abzuleiten, mit dem BYOD-Unterricht verbessert werden kann. An vielen Schulen auf der Sekundarstufe II wurde er eingeführt, ohne dass Schüler:innen oder Lehrpersonen das explizit gewünscht hatten. In einigen Fächern bietet es sich methodisch und inhaltlich an, digitale Arbeitsformen ins Schulzimmer zu integrieren, in anderen erfordern sie zumindest eine Umstellung der bisher vorherrschenden Praktiken.
(1) Gesteigerte Qualität der Ablenkung
Ablenkung gab es schon immer in Schulzimmern. Schüler:innen haben geschwatzt, gelesen, zum Fenster rausgesehen, Spiele gespielt. Es gibt wenig, was mehr Kreativität beim Finden von Ablenkungsquellen auslöst, als Unterricht. Der entscheidende Unterschied digitaler Geräte: Sie ermöglichen einen Zugang zu Unterhaltung, die von einer Industrie explizit zu diesem Zweck hergestellt wurde. TikTok ist professionelle Ablenkung auf höchstem Niveau, genauso wie BrawlStars oder Snapchat. Diese Angebote verbinden Addictive Design mit sozialer Einbettung und schaffen so eine Art von Motivation, welche Unterricht nicht erzeugen kann.
Mit digitalen Geräten sind diese Angebote immer eine App entfernt. Ja, Schüler:innen können diese Apps deinstallieren, sich mit Produktivitätstools zwingen, die Lernumgebung nicht zu verlassen. Aber sie sehen auch auf die Bildschirme anderer Lernender, die gerade Chess.com offen haben oder auf Zalando Kleider ansehen – und erinnern sich, dass sie auch noch eine Partie des neuen Spiels spielen können, zumal die Lehrperson eh gerade nur repetiert… (Ergänzung 17. Dezember: Eine neue Studie zeigt, dass Ablenkung ansteckend ist.)
(2) Wie sieht wirksamer BYOD-Unterricht aus?
Vor sieben Jahren habe ich an Schulen darüber geredet, wie guter BYOD-Unterricht gestaltet werden sollte. Heute kann man das an zwei Merkmalen festmachen:
Gibt es klare Sequenzen mit Laptop-Nutzung und solche ohne Laptop-Nutzung? Ist das nicht der Fall, sind Schüler:innen immer irgendwie am Gerät, ohne dass geklärt ist, was sie damit genau tun sollen. Das macht es für sie gleichermaßen schwierig, die Geräte wegzulegen wie sie wirksam zu nutzen. In einem bewusst gestalteten BYOD-Unterrichts erkennen Schüler:innen, wann Aufgaben nur mit dem Laptop gelöst werden können – und wann das kontraproduktiv ist. Sie legen in gewissen Phasen gezielt Notizen am Laptop an – und in anderen von Hand oder gar nicht.
Neben der Sequenzierung ist es wichtig, dass Arbeitsformen gefunden werden, bei denen die Kultur der Digitalität echt genutzt wird und digitale Arbeitsformen nicht eine Art Simulation von dem sind, was ohne digitale Geräte im Unterricht darstellen würde. OneNote ist eine Anwendung, die dazu animiert, Skripte und Arbeitsblätter auf eine Art zu digitalisieren. OneNote hat keine Kraft, bietet keine Affordanz, die genuin digital ist. Digitale Arbeit erfordert Referenzialität, Kollaboration und Algorithmizität. Es geht nicht darum, Geräte zu nutzen, sondern sie auf eine Art zu nutzen, die professionelle fachliche Arbeit mit genuin digitalen Werkzeugen ermöglicht.
Wenn problematischer BYOD-Unterricht stattfindet, fördert das die Nutzung der Geräte als Ablenkungsmaschinen.
Der Begriff »Konzentration« könnte gut auch auf die Buchkultur zurückgeführt werden. Er wertet einen primären, vom Text ausgehenden Reiz auf und sekundäre Reize ab. Ein »tiefes« und lineares Lesen erhält den Vorzug vor einem »oberflächlichen« und vernetzten. Zunächst einmal scheint das einleuchtend: Wer einen Zusammenhang erfassen will, muss längere Texte ergründen können, surfen reicht dafür nicht aus. Nur: Hier betrachten wir einen Wissenszugang, der geprägt ist von einem traditionellen Paradigma, von den Mythen der Buchkultur. Deshalb spreche ich von »traditioneller Konzentration«. Die Möglichkeiten einer »digitalen Konzentration«, in der Vernetzung und Multitasking eine wesentliche Rollen stehen, sind noch kaum ergründet.
Diese Idee ließe sich im Hinblick aufs Lernen ausweiten. Nicht alles, was als Ablenkung erscheint, ist auch Ablenkung. Oft gehen solche Sichtweisen davon aus, Menschen müssten beim Lernen möglichst lange eine bestimmte Wahrnehmungshaltung einnehmen. Dabei blenden sie aus, dass Ambient Awareness, Multitasking und andere Formen der genuin digitalen Konzentrationssteuerung in der Auseinandersetzung mit digitalen Artefakten einen immensen Wert besitzen. Wenn es so aussieht, als starre jemand in einen Bildschirm, so kann das ein Zeichen für einen enormen Fokus auf einen Primärreiz sein, eine Interaktion mit vielen wichtigen Impulsen gleichzeitig bedeuten oder auch für maximale Ablenkung stehen – wir können das nicht erkennen.
(4) Ist Ablenkung schlimm?
In seinem lesenswerten Essay «Faulheit gibt es nicht» zeigt der Psychologe Devon Price, warum es sinnvoll sein kann Aufgaben aufzuschieben. Er schreibt etwa:
Die Lösung besteht darin, herauszufinden, was Menschen in diesen Situationen zurückhält. Wenn Angst das Haupthindernis ist, müssen Prokrastinierende tatsächlich vom Computer/Buch/Word-Dokument weggehen und sich einer entspannenden Tätigkeit widmen.
Diese Sichtweise sollte man auch auf Ablenkung im Unterricht einnehmen. Es gibt einen Grund, weshalb Schüler:innen in diesem Moment lieber etwas anderes tun, als das, was die Lehrperson von ihnen erwartet (oder sie selber von sich erwarten). Vielleicht passen die Aufgaben nicht zu ihrem Lernstand, sind also zu einfach oder zu schwierig? Vielleicht sind sie müde, weil sie in den Stunden zuvor anstrengende Aktivitäten ausgeführt haben?
Sich abzulenken kann unter Umständen eine gesunde, vernünftige Haltung sein. Ablenkung ist nicht per se schlimm, auch nicht an digitalen Geräten. Aber sie hat fast immer einen Grund.
(5) Die strukturellen Probleme von (Schweizer) Gymnasien
Das Gymnasium steckt in einer strukturellen Krise, die ich bereits hier und hier ausführlich diskutiert habe. Kurz gesagt bieten sie zu wenig Individualisierung an, lähmen sich selber durch ein überholtes Fächerdenken und versuchen Schüler:innen mit einer Prüfungskultur unter Druck zu setzen, welche den Aufbau von Motivation und Interesse behindern. Schüler:innen nehmen Unterricht oft als lästige Pflicht auf dem Weg zum Abitur oder zur Matur wahr. Und was tun Menschen, wenn sie lästige Pflichten erfüllen müssen? Sie lenken sich ab.
Damit kann ich ein Fazit formulieren: Erstens müssen Schulen, die mit BYOD arbeiten, das auf eine Art professionell tun, welche aus der Sicht der Schüler:innen deutlich macht, welche Arbeiten sinnvollerweise mit und welche ohne Einsatz von Computern erfolgen soll. Hier braucht es neue didaktische Konzepte, welche die medialen Realitäten berücksichtigen und nicht versuchen, überholte Unterrichtskonzepte zu bewahren. Das ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen das Ablenkungspotential von Laptops im Unterricht. Zweitens müssen Schulen schnell besser werden, sie müssen Schüler:innen auf eine Art lernen lassen, die deutlich macht, dass das mehr bringt als die nächste Runde BrawlStars oder die nächste halbe Stunde TikTok.