Gymnasium in der Krise – 10 Thesen

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist ein Eindruck, der sich bei mir seit den Fernunterrichtphasen eingestellt hat: Schüler*innen »fühlen« das Gymnasium nicht mehr, wie sie selber sagen würden. Sie erleben den Unterricht nicht als erfüllend, werden in mit ihren Bedürfnissen zu wenig wahrgenommen und bleiben aus Mangel an Alternativen an den Schulen – nicht, weil sie davon magnetisch angezogen werden. Das Gymnasium hat seine Strahlkraft, seine Identität, seinen Kern verloren. Dazu habe ich Thesen formuliert, die einerseits zeigen, wie es soweit hat kommen können, und andererseits auch Wege aus dieser Krise aufzeigen. Krisen sind ja bekanntlich immer auch Chancen.

Ich arbeite an einem Gymnasium in der Stadt Zürich. Selbstverständlich kann das Gefühl einer Krise etwas Lokales und Subjektives sein. Unter Umständen nehme ich kritische und unzufriedene Stimmen besonders stark wahr. Vielleicht betrifft die Krise die Region Zürich besonders etc. Mit meinen Thesen erhebe ich bewusst keinen absoluten Anspruch, sie sind als Denk- und Diskussionsanstöße gedacht, um sich über Zusammenhänge und Eindrücke zu verständigen.

These 1:
Trotz Krise sind Gymnasien beliebt.

Die Krise der Gymnasien ist qualitativ – sie bezieht sich auf das Sinnerleben von Schüler*innen. Die Krise bedeutet, dass sie zwar viel Zeit an Gymnasien verbringen, diese Zeit aber nicht als wertvolle Investition betrachten. Das ändert aber kurz- und mittelfristig nichts daran, dass sehr viele junge Menschen Gymnasien besuchen wollen. Eine quantitative Krise gibt es aktuell nicht. Das mag paradox erscheinen. Kann das Interesse an einer Institution während einer Krise ungebrochen bleiben? Aus meiner Sicht durchaus. Erstens besuchen viele junge Menschen Gymnasien, weil ihre Eltern das erwarten. Ob sie selber das für ihre Kinder später auch wollen würden? Diese Frage zeigt: Wir merken die quantitativen Auswirkungen der Krise verzögert. Zweitens fehlt es schlicht an Alternativen. Viele Jugendliche haben keine Wahl. 

These 2:
Gymnasien sind für Lehrkräfte konzipiert, nicht für Schüler*innen.

Wer im deutschsprachigen Raum an Gymnasien unterrichtet, ist privilegiert: Im Vergleich mit allen anderen Lehrpersonen sind die Unterrichtsverpflichtungen tief, die Löhne hoch, die Freiheiten ausgeprägt und die Schüler*innen kooperativ und leistungsfähig. Diese Privilegien führen oft zu einer Anspruchshaltung: Unterricht muss zuerst den Bedürfnissen von Lehrenden entsprechen, bevor es um die der Lernenden geht. Deutlich wird das immer dann, wenn Schüler*innen aus nordamerikanischen Schulen an Gymnasien wechseln: Sie werden oft als unanständig wahrgenommen, weil sie Ansprüche an Lehrkräfte stellen. Viele Lehrpersonen an Gymnasien sehen sich als die einzigen, die Erwartungen äußern dürfen. Die Lernenden hingegen sollten Anforderungen entsprechen, weil sie sonst an der falschen Schule sind.

Lehrpersonen an Gymnasien können sich – ausgehend von ihrer eigenen Schulerfahrung und den Erwartungen an Schüler*innen – darüber empören, dass Lernende bestimmte Verhaltensweisen zeigen oder Ansprüche stellen. »Es kann doch nicht sein, dass…« ist oft der Ausgangspunkt für die Einsicht, dass es tatsächlich ist ist (und sein kann). Ein Beispiel: Es gibt Schülerinnen am Gymnasium, die nicht lesen. Sie kennen subjektive Lektüre als Genuss oder Form der Welterschließung nicht mehr. Sie müssen gezwungen werden, Texte oder Bücher zu lesen, freiwillig würden sie es nie tun. Der Wunsch, das möge anders sein, kann weder erklären, warum es tatsächlich so ist – und er kann auch an dieser Realität nichts ändern. Und so gibt es an Gymnasien oft Zwang oder Druck, wo eigentlich eine Bereitschaft der Lernenden stehen müsste. Das beginnt bei der Absenzenkontrolle und endet bei Prüfungen.

Was hier hilft, sind Erklärungen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Um sie zu verstehen, muss man die Sichtweise von Lernenden ernst nehmen, sie in die Gestaltung von Schule und Unterricht einbeziehen. Die Zurückweisung dieser Bedürfnisse belastet Gymnasien.

These 3:
»Gymnasiale« Bildung lässt sich nicht individualisieren.

»gymnasial« ist eine Eigenschaft, welche bei Schüler*innen vorausgesetzt wird. Gemeint ist damit meist, dass Lernende bildungsbürgerliche Werte mitbringen und von den Eltern schon ein Interesse für Literatur, Naturwissenschaften, musisches Lernen und die Bereitschaft für die Erarbeitung von Schulstoff vermittelt bekommen haben. Die Eigenschaft, »gymnasial« zu sein, kann nicht mehr vorausgesetzt werden. Das ist aber grundsätzlich kein Problem: Alle Jugendlichen bringen Erfahrungen und Weltwissen mit, das ihre Perspektive zu einer wertvollen Ressource für eine zeitgemäße Schule macht. Aber Gymnasien können diese Perspektiven oft nicht abholen, weil sie nur für »gymnasiale« Menschen designt sind. Diversität sollte eine Chance für Gymnasien sein, nicht ein Problem.

Das Problem entsteht deshalb, weil gymnasialer Unterricht an den 7G orientiert ist: Gleichaltrige Schüler*innen bearbeiten im gleichen Raum zur gleichen Zeit auf die gleiche Art und Weise mit der gleichen Lehrperson die gleichen Inhalte – und orientieren sich dabei an den gleichen Zielen.

Von all diesen 7G müssten Gymnasien sich lösen können. Dabei verlieren sie aber ihre Identität, die Orientierung daran, was »gymnasial« ist.

These 4:
Der Kanon ist aufgelöst.

Was Jugendliche am Ende des Gymnasiums wissen sollten, ist so umstritten wie nie zuvor. Man kann sich über die Forderung amüsieren, dass Steuererklärungen wichtiger sind als Gedichtanalysen – sie zeigt aber letztlich, dass alles verhandelbar geworden ist. Es gibt (vielleicht abgesehen von einem Verständnis des Holocausts und dem Erlernen einer Fremdsprache) keinen Inhalt, bei dem man nicht mit vernünftigen Argumenten zeigen könnte, dass er nicht alle Jugendlichen bedeutsam ist. Gymnasien können sich nicht mehr über Wissensbestände definieren. Weder quadratische Gleichungen noch Faust sind Orientierungspunkte. Das führt dazu, dass Identifikation deutlich schwieriger geworden ist: Gymnasien sind nicht mehr Schulen, wo eine Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten möglich ist. Das hat selbstverständlich auch mit Digitalität zu tun: Wer sich Faust geben will, kann das an jedem Computer tun. Dazu braucht es keinen gymnasialen Deutschunterricht mehr.

Der Kanon wird nicht mehr zurückkommen. Aus bildungsbürgerlicher Perspektive stellt sich schnell die Vorstellung ein, er müsse entweder leicht modifiziert oder mit Vehemenz vertreten werden: Sollen doch die Jugendlichen wieder Homer und Shakespeare lesen und sich mit Thermodynamik auseinandersetzen! Doch das sind alles Verteidigungsstrategien, die nichts ausrichten können: Jugendliche erleben, dass ihr Alltag von komplexen Prozessen bestimmt wird, die im gymnasialen Kanon nur am Rande vorkommen. Über die Kanon-Strategie gelangt man nicht zu einem Verständnis dieser Prozesse.

These 5:
Fächer sind das Problem und die einzige Lösung.

Entwicklung der Fächerverteilung am Gymnasium am Münsterplatz Basel, Darstellung NZZ Folio

Das Fächerproblem habe ich bereits ausführlich beschrieben. Grundsätzlich besteht es darin, dass Unterricht, Wissensmanagement und Zeitplanung immer über eine Fächereinteilung gedacht wird, die einseitig und lückenhaft ist. Das Problem hat verschiedene Facetten, von denen ich hier vier kurz erwähnen möchte:

  1. Grabenkämpfe.
    Lehrpersonen sind oft für ihr Fach angestellt. Sie verteidigen es bei Reformen und müssen, oft auch aus gewerkschaftlichen Gründen, dafür Sorgen, dass ihr Fach möglichst viel Zeit beansprucht – unabhängig davon, ob das für Schüler*innen sinnvoll ist.
  2. Interdisziplinarität als Floskel.
    Die Bearbeitung von Problemen erfordert einen Zugang von verschiedenen Fächern. Beispielsweise gibt es heute keine wissenschaftliche Tätigkeit mehr, bei der Kommunikation, Projektmanagement, betriebswirtschaftliche Planung, digitale Verfahren etc. keine Rolle mehr spielen würden. All das ist immer verbunden. An Gymnasien wird es immer wieder aufgetrennt, so dass interdisziplinäres Lernen eigentlich gar nicht möglich ist.
  3. Zeiteinteilung.
    Fächer führen kleinen Zeiteinheiten, die vertieftes und intensives Lernen verunmöglichen.
  4. Kein Raum für Innovation.
    Innovation an Gymnasien gibt es auf zwei Arten: Erstens ein neues Fach einführen (was aber niemand will, siehe 1.) – und zweitens Fachlehrpläne überarbeiten. Dabei muss dann gegen etablierte Praktiken und Vorstellungen von fachlichem Lernen angekämpft werden, wenn echte Innovation möglich sein sollte. Oft wird lediglich alter Wein in neue Schläuche gegossen.

These 6:
Visionen fehlen.

Kürzlich habe ich mit Daniel Straub über Schule gesprochen und von ihm einen Gedanken aufgeschnappt: Gymnasien müssten Schulen sein, wo Jugendliche lernen, etwas richtig gut zu können. Das ist eine Vision: Jugendliche dabei unterstützen, bestimmte Stärken zu entwickeln.

Solche Visionen fehlen Gymnasien heute. Schulleitungen und Bildungspolitik sind durchaus bereit, an allen Stellschrauben zu drehen – aber jeweils nur ein wenig. So entstehen tolle Projekte: Etwa Phasenunterricht mit intensiveren Lerneinheiten oder Wochentage ohne Stundenplanbindung. Ausgangspunkt ist oft aber einfach die Wahrnehmung eines Problems, nicht die Orientierung an einem klaren Ziel.

Das hat mit der Doppelfunktion des Gymnasiums zu tun: Einerseits bereitet es auf ein Studium vor, andererseits befördert es die Bildung und Entwicklung junger Menschen. Jede Vision, die sich primär am zweiten Ziel gymnasialer Lehrgänge orientiert, muss sich am ersten messen lassen: Können die Jugendliche, die etwas richtig gut können, jedes Fach studieren? Vielleicht nicht. Und schon zerfällt die Vision, es muss alles so bleiben, wie es ist.

These 7:
Schlechte Bachelor-Studiengänge sind die falsche Orientierung.

Ein schlechtes Bachelor-Modul funktioniert so: Studierende erhalten in Vorlesungen Folien und Skripte, die sie bis zum Prüfungstermin verarbeitet haben müssen. Entweder bestehen sie die Prüfung oder sie wiederholen das Modul. Diese Module verfestigen einen 7G-Unterricht und ignorieren Interessen und Bedürfnisse von Studierenden komplett. Wenn nun gymnasialer Unterricht auf schlechte Bachelor-Module vorbeiten soll, wird er auch schlecht (oder bleibt schlecht).

Besser wäre, gymnasialer Unterricht würde sich an Master-Studiengängen orientieren. Dort müssen Studierende selbstorganisiert, interdisziplinär, projektorientiert und kreativ arbeiten – was sie oft nicht gut können, weil das an Gymnasien und im Bachelor-Studium nicht gefragt war.

These 8:
Technische hat pädagogische Schulentwicklung ersetzt.

Bedingt durch die Pandemie und die digitale Transformation haben Gymnasien in den letzten Jahren enorme Energie in einen technischen Prozess investiert: Wie können digitale Geräte in den Unterricht integriert werden? Dabei sind viele pädagogische Fragen an den Rand gerückt. Wozu diese Gerät wirklich dienen sollten, wie eine zeitgemäße Arbeit in einer digitalen Lern- und Arbeitskultur aussieht – all das haben Schulen aus dem Blick verloren. Entstanden sind so Möglichkeiten, Skripte über eine digitale Plattformen verfügbar zu machen und Folien in den Schulzimmern effizient zu zeigen. Der Aufwand dafür war enorm – und hat einen Preis: Alle anderen wichtigen Formen von Schulentwicklung, die Gymnasien zu guten Orten für Lernende machen.

Ideen zur Entwicklung müssen Gymnasien mit Lehrpersonen und Lernenden zusammen entstehen lassen. Dafür sollte Raum geschaffen werden.

These 9:
Wirtschaftsferne isoliert.

Berufsschulen stimmen sich mit Betrieben in Bezug auf Arbeitsmethoden und Lerninhalte ab. Der Dialog mit Wirtschaftsunternehmen führt zu permanenter Evolution. Gymnasien fehlt diese Offenheit weitgehen. Lernerfahrungen haben oft wenig mit dem zu tun, was in der Arbeitswelt von jungen Menschen erwartet und gefordert wird. Damit ist keine Orientierung an wirtschaftlicher Verwertbarkeit gemeint, sondern ein Abgleich in den Punkten, wo Methoden und Kompetenzen tatsächlich angewendet werden sollen.

Das Problem der Wirtschaftsferne zeigt sich aber auch in der Führung und Personalentwicklung von Gymnasien. Hier müssten Change-Prozesse ebenfalls ansetzen und sich an guten Formen aus der Privatwirtschaft orientieren. Eine Art Karriereplanung von Lehrpersonen ist seit Jahrzehnten ein Desiderat – Realität ist vielerort immer noch: Alle Lehrpersonen machen bis zur Pension dasselbe. Sie wechseln zudem kaum die Schule und haben wenig Erfahrung in nicht-schulischen Betrieben.

So entwickeln Gymnasien ein Eigenleben, das sich immer wieder bestärkt, aber zu wenig offen ist.

These 10:
Selektion und Prüfungskultur verengen den Spielraum.

Gymnasien können Lehrpersonen und Schüler*innen auswählen. Diese Macht der Selektion hat zwei Konsequenzen: Erstens führt sie zu homogenem Denken. Wer die Arbeits- oder Lernkultur an Gymnasien nicht mag, kann gehen. Kritische Lernende und Lehrende sind solange erwünscht, wie sie das System nicht ändern wollen. Kritik auszuhalten, ohne sofort an die Möglichkeit der Selektion zu denken, ist nicht ganz einfach. Entsprechend verengt sich die Perspektive, eine Kultur des Ja-Sagens entsteht. Sie ist nicht besonders gut sichtbar, weil Lehrpersonen und Jugendliche ständig was zu meckern haben. Aber das Meckern bleibt an der Oberfläche, radikale Kritik und die Bereitschaft zur Veränderung werden erschwert und verunmöglicht.
Zweitens erfordert Selektion Verfahren – das sind Prüfungen. Diese Prüfungen bestimmen die Lernkultur und engen die Möglichkeit von Lernerfahrungen ein. Was nicht geprüft werden kann, hat an Gymnasien einen geringen Stellenwert. Werte und Kompetenzen von Lernenden werden immer wieder diskutiert, sie stehen aber im Alltag im Hintergrund. Er besteht zu einem grossen Teil aus der Vorbereitung und Verarbeitung von Prüfungen.

Und nun?

Ich arbeite an einem Gymnasium – und tue das gern. Den Austausch mit Kolleg*innen schätze ich, die Arbeit mit Schüler*innen liebe ich. Und doch denke ich jeden Tag in der Schule: Da wäre so viel mehr möglich, unsere Schulen könnten viel bessere Orte für Jugendliche und Lehrpersonen sein.

Wie werden sie es? Meine Hoffnung: Indem wir immer wieder darüber reden und kleine Schritte gemeinsam gehen. Meine Befürchtung: Kleine Schritte reichen nicht.

Es braucht ein Gymnasium ohne Fächer und ohne Noten, ohne Stundenplan und ohne Kanon. Mit Expertise und Feedback, Verbindlichkeit und hohen Ansprüchen. Lernende müssen jede Woche die Erfahrung machen: Ich habe was geleistet, ich kann etwas besser als in der Woche zuvor, hier findet eine Entwicklung statt. Lehrende sollten stolz sein auf das, was Schüler*innen leisten, und nicht ständig denken müssen: »Es kann doch nicht sein, dass…«

Eine solche Schule zu gestalten wäre ein Traum, der wohl eine Utopie bleibt. Die Schule darf nicht privat finanziert werden, weil sie für alle offen sein muss. Sie braucht enormes Vertrauen von allen Seiten, obwohl es keine Garantien gibt, dass sie Erfolg hat. Ich könnte weitere Hindernisse aufzählen, schließe aber mit einem Wunsch: Dass Gymnasien den Mut aufbringen, einzelne Breschen zu schlagen und sich neu erfinden – statt weiter das verwalten, was sie schon immer waren.

Das ist auch deshalb wichtig, weil die gymnasiale Lernkultur auf alle Teile des Bildungssystems Einfluss hat.

(Vor ein zwei Jahren habe ich bereits sechs Thesen zu einer Total-Revision der Schweizer Gymnasien geschrieben, man findet sie hier.)