interaktionsorientiertes Schreiben – ein Problem mit Social-Media-Schreibprojekten

Lange Zeit ging ich im Deutschunterricht davon aus, dass Schreibprojekte in Social-Media-Umgebungen aus zwei Gründen besonders sinnvoll seien: Erstens sind nahe am Schreiballtag von Jugendlichen, die viele private Schreibaufgaben auf digitalen Plattformen erledigen. Zweitens führen sie dazu, dass eine Klasse über gemeinsame praktische Erfahrungen mit Social Media verfügt, die dann reflektiert werden können.

Vom zweiten Vorteil bin ich weiter überzeugt. Am ersten zweifle ich mittlerweile. Das hat einen einfachen Grund: junge Menschen nutzen digitale Plattformen primär für interaktionsorientiertes Schreiben (Storrer). Das unten abgebildete Instagram-Profil ist für Jugendliche in Zürich nicht untypisch: es zeigt keine Beiträge und Stories. Genutzt wird es, um andere Beiträge zu liken und zu chatten – kurz: um Beziehungen zu gestalten.

Wenn ich nun im Unterricht ein Projekt anbiete, in dessen Rahmen wir ein literarisches Werk als Instagram-Profil gestalten, dann nutze ich Instagram als produktorientierte Plattform. Ich erwarte, dass schöne Beiträge mit Zitaten, passenden Bildern etc. gepostet werden. Diese Nutzung von Instagram ist zwar möglich, aber nicht die, welche bei Jugendlichen vorherrscht.

Deshalb ist die Nähe zur Alltagspraxis von Jugendlichen nicht direkt gegeben. Obwohl eine Plattform genutzt wird, auf der Jugendliche viel Zeit verbringen, orientiert sich ihre Nutzung an traditionellen Vorstellungen von Schreibunterricht. Die Flüchtigkeit und Dynamik von interaktionsorientierten Schreibprozessen lässt sich schlecht im Unterricht greifbar machen.

Das bedeutet nicht, dass es hier keine wichtigen Kompetenzen gäbe, die in der Schule aufgebaut werden können. Es gelingt wohl einfach nicht mit klassischen Social-Media-Projekten. Oder umgekehrt: Auch bei schulischen Social-Media-Projekten können Schüler*innen viel lernen – aber nicht, weil sie sich nahe bei ihrer alltäglichen Mediennutzung befinden würden.

Warum Smartphones wie Ketchup sind – die Wohlfühl-Theorie

Malcolm Gladwell hat vor Jahren eine Ketchup-Theorie entwickelt:

Kinder im Alter von zwei oder drei Jahren neigen dazu, neue Geschmäcker abzulehnen. Aus evolutionsgeschichtlicher Sicht ist dieses Verhalten durchaus sinnvoll, denn in der Frühgeschichte der Menschheit begannen Kinder in diesem Alter damit, selbst Essen zu sammeln; wer sich nicht an das Bekannte und Vertraute hielt, hätte wohl nicht überlebt. Unser Dreijähriger hatte vermutlich etwas Verdächtiges auf dem Teller – vielleicht Thunfisch oder Rosenkohl –, und er wollte das Fremde vertraut machen, indem er seinen Geschmack unterdrückte. Also griff er nach dem Ketchup, denn von allen Würzsoßen ist nur dieser in der Lage, süß, sauer, salzig, bitter und umami zu liefern, alles auf einmal.

Zitiert nach »Was der Hund sah«, Campus 2009

»Das Fremde vertraut machen« – das ist das, was Ketchup auf dem Teller eines Kindes leistet. Dasselbe machen Smartphones: im öffentlichen Verkehr, in der Schule, in seltsamen sozialen Situationen. Menschen begegnen Fremden, sind unsicher oder emotional aus dem Gleichgewicht: Ihre Smartphones funktionieren wie Ketchup. Sie schaffen einen berechenbaren, bekannten Raum. TikTok-Swipen, ein mobiles Spiel, ein WhatsApp-Chat – das reduziert die Fremdheit und unterdrückt den »Geschmack« der Umgebung.

Diese Sichtweise kann erklären, weshalb viele Menschen unwillkürlich zum Smartphone greifen. Andere wahrzunehmen und auf sie einzugehen, ist auch eine Belastung, nicht immer eine Bereicherung. Sich mit vielen anderen Menschen zusammen irgendwo aufzuhalten, kann eine Überforderung sein – genau so wie ein Essen, das ein Kind nicht kennt und nicht mag.

Illustration: Dall-E 2

Was kommt nach Twitter?

Ich nutze Twitter länger als 13 Jahre. Seit rund 10 Jahren ist es für mich die zentrale Schnittstelle im Netz. Nach der Übernahme durch Elon Musk fühlt es sich so an, als könnte Twitter entweder insgesamt verschwinden oder sich in seiner Funktionalität so verwandeln, dass es sich nicht mehr so nutzen lässt, wie mir das wichtig wäre.

Wofür nutze ich Twitter?

  1. Information und News
    Twitter hat für mich das Lesen von Zeitungen ersetzt, weil ich direkt über mein Netzwerk Zugang zu Nachrichten und wichtigen Informationen erhalten habe.
  2. Austausch
    Öffentlich und in Chats (Direct Messages) diskutiere ich mit Fachpersonen, Freunden und anderen Interessierten über Themen, die mich beruflich und privat beschäftigen.
  3. Netzwerk
    Ich lerne Menschen kennen, die sich durch die Auseinandersetzung mit bestimmten Themen auszeichnen, folge ihnen und knüpfe durch den Austausch (2.) Beziehungen. Auf Twitter sind praktisch in jedem Fachgebiet die kompetentesten Personen direkt vertreten.
  4. Bühne
    Meine Blogposts, Videos, Materialien etc. kann ich auf Twitter verbreiten.
  5. Küchentisch der WG für Zigarettenpausen
    Viele meiner Tweets sind momentane Gedanken, flüchtige Notizen, die manchmal im Meer der Kurznachrichten untergehen, manchmal Auftrieb erhalten und selten wie eine vergessene Flaschenpost an eine Küste getrieben werden. Oft entstehen kurze Gespräche, die für mich eine Art Entspannung sind – weil sie mich aus dem Alltag mit Menschen verbinden, die auch gerade auf Twitter plaudern.
  6. (Doom)Scrolling
    Twitter ist auch einfach Konsum, Unterhaltung. Man erhält Einblick in private Gedanken, sieht tolle Fotos und Videos und kann Menschen dabei zuschauen, wie sie streiten, wie sie sich freuen, wie sie leben.

Der Ersatz für Twitter funktioniert aus zwei Gründen nun nicht so leicht, wie man sich das vorstellen könnte: Erstens muss ich jede dieser Funktionen ersetzen können und zweitens das Netzwerk mit diesen Funktionen verbinden können. Twitter funktioniert so gut, weil ich den richtigen Konten folge (die jahrelang ausgesucht habe) und weil mir die richtigen Konten folgen (die mich ausgesucht haben). Vergleichbar ist das mit WhatsApp: Seit WhatsApp nicht mehr unhinterfragter Standard ist, muss man dort weiterhin mitlesen, gleichzeitig aber Menschen über SMS, Signal, Threema oder Telegram anschreiben und auf diesen Apps auch checken, ob man Nachrichten erhalten hat.

So ist auch mit Twitter – es bleibt bestehen, wird aber gleichzeitig auch abgelöst:

  • Mastodon wird der Küchentisch der WG sein, wo man versucht, mit anderen Interessierten ins Gespräch zu kommen.
  • Newsletter werden den Informations- und Newsaspekt von Twitter ersetzen (bislang habe ich wenige Newsletter direkt gelesen, weil die auf Twitter ohnehin verlinkt wurden). Meinen Newsletter werde ich weiter bespielen und ihn dazu benutzen, meine Beiträge auszuspielen.
  • Austausch wird sich in die Instagram-DMs und in Chat-Tools verlagern.
  • Das Netzwerk wird sich zersplittern, Teile werden über Twitter, Facebook, Linkedin, Instagram und Mastodon greifbar sein, aber nie mehr so systematisch wie bei Twitter.
  • Mein Scrolling hat sich in letzter Zeit schon stark zu Reddit verlagert, das wird wohl so bleiben; ergänzt durch ein paar News-Plattformen.

Noch eine Bemerkung zu Mastodon: Viele denken heute, die App könnte Twitter direkt ersetzt. Für mich ist das aber nicht denkbar, weil Twitter durch eine Mischung von Zugänglichkeit, Algorithmizität und Breite dazu geführt hat, dass sehr viele Akteure auf Twitter interagieren konnten. Mastodon enthält viel mehr Schwellen, verlangt von Nutzenden mehr.

Positivistische Vermessung des Unterrichts – eine Kritik

Die Vorstellung, Unterricht müsse primär aufgrund von ausgewerteten Daten evaluiert und optimiert werden, ist nicht erst in letzter Zeit aufgekommen. Sie gehört zur Geschichte eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses, das davon ausgeht, mit Messungen Erkenntnisse gewinnen zu können, um dann gesellschaftliche Prozesse daran auszurichten – z.B. Schule und Unterricht.

In den letzten Monaten mehren sich Stimmen, die eine Art Revival dieses Wissenschaftsverständnisses fordern. Exemplarisch dafür ist für mich der Psychologe Benedikt Wisniewski, der auf Twitter und in Podcasts Lehrpersonen psychologisches Grundlagenwissen vermittelt – immer mit dem Anspruch, eine datenbezogene Vorstellung von Psychologie sei geeignet, Lernprozesse zu verstehen und dem Design von Lernumgebungen eine Orientierung zu geben. (Die Orientierung an gemessenen Daten wird oft »empirisch« genannt, obwohl dieser Begriff unscharf ist und in Diskussionen oft dazu führt, dass Missverständnisse entstehen.)

Der Erziehungswissenschaftler David Scheer hat die zentrale Vorstellung der datenbezogenen Erkenntnisgewinnung bei der Evaluation von Unterricht auf eine einfache Formel gebracht:

Löst Maßnahme/Methode X das Problem Y?

David Scheer, Twitter

Denken wir z.B. darüber nach, wie gut Schüler*innen in der Schweiz lesen können, dann können wir das messen. Z.B. mit dem Pisa-Test. Wir erhalten dann beispielsweise diese Tabelle aus dem Pisa Bericht 2018.

Nun können Maßnahmen eingeleitet werden, um z.B. den Anteil leseschwacher Jugendlicher zu senken oder den Anteil lesestarker Jugendlicher zu erhöhen – indem z.B. der finnische respektive der kanadische Leseunterricht imitiert wird. Bei der nächsten Pisa-Untersuchung (die schon erfolgt, aber noch nicht ausgewertet ist), kann dann überprüft werden, ob die Maßnahmen erfolgreich waren oder nicht.

Wo liegt nun das Problem mit dieser Sichtweise bzw. diesem Vorgehen?

  1. Wenn wir davon ausgehen, dass Messungen präzise erfolgen (was nicht immer der Fall ist), dann fokussieren sie auf diejenigen Anteile von Prozessen, die sich (leicht) messen lassen. Im vorliegenden Fall kann aus den gemessenen Daten nicht abgeleitet werden, wie gern Jugendliche lesen, wie gut sie darin sind, audiovisuelle Texte zu verstehen, wie gut sie Informationen aus mündlichen Gesprächen verarbeiten können etc. Die Messung ignoriert viele Aspekte, auch weil sie teilweise schwerer zu messen sind (oder es gar nicht möglich ist, relevante Daten zu erheben).
  2. Messungen schaffen Fehlanreize. Wenn es darum geht, ein Problem tatsächlich zu lösen, dann führt die Messung dieser Problemlösung zu vielen Aktivitäten, die nur der Anschein erwecken, das Problem sei gelöst. In der Schule ist das z.B. das Teaching-to-the-Test-Phänomen.
  3. Unterricht ist sinnstiftende Beziehungsarbeit. Effiziente Maßnahmen – die sich bei Messungen bewährt haben – können sowohl den Sinn wie auch die Beziehungen stören. Lehrpersonen müssen hier Abwägungen treffen. Vielleicht ist das Selbstvertrauen des leseschwachen Viertels in einer Klasse gerade wichtiger als ihre Lesekompetenz.
  4. Wissenschaft umfasst viele Methoden, auch schon nur in der Beobachtung und Auswertung von Unterricht. Die Erhebung und Verarbeitung von Daten ist eine von vielen Methoden. Sie zur primären Methoden zu erklären, ist falsch und anmaßend. Es ist eine naturwissenschaftliche Methode, deren Übertragung auf gesellschaftliche Prozesse wissenschaftshistorisch nur bedingt erfolgreich war. Das hängt mit den oben erwähnten Punkten zusammen.
  5. Daten werden in größeren Kontexten interpretiert, aber in kleinen Kontexten erhoben. Ein schönes Beispiel ist eine Studie von Steinig und Betzel, die untersucht hat, wie gut Grundschüler*innen schreiben. Dazu wurden Texte von 1972, 2002 und 2012 verglichen. In der Interpretation wird deutlich, dass sich in den 40 Jahren Medien und Schreibprozesse so stark verändert haben, dass ein Vergleich gar nicht möglich ist. Schreibkompetenz hat sich gewandelt. Schon nur die Versuchsanordnung ist eine ganz andere: Kam in den 1970er-Jahren eine externe Fachperson in den Unterricht, haben Schüler*innen die Situation anders interpretiert als 2012. Die größeren Kontexte müssen mitgedacht werden – sie können nicht durch Messungen ermittelt werden. (Ein ähnliches Problem taucht auf, wenn große Meta-Studien wie die Hattie-Studie zu sehr abstraken Erkenntnissen führen, die dann auf konkrete Situationen angewandt werden. Dabei werden Daten aus chinesischen Grundschulen plötzlich auf Schweizer Gymnasien übertragen, womit sie nichts zu tun haben.)

Denken wir also über Unterricht nach, dann sind Erkenntnisse aus Daten ein wichtiges Element. Dieses Element muss berücksichtigt werden – aber eingebettet in alle anderen Formen des wissenschaftlichen und praktischen Nachdenkens über Unterricht. Und es muss kritisch reflektiert werden: Nicht abgewertet, nicht ausgeblendet, sondern im Sinne einer rationalen Prüfung, ob diese Erkenntnisse wirklich dabei helfen, ein vorliegendes Problem zu bearbeiten.

Wer ein dogmatisches Loblied auf Datenauswertung singt und dabei alle, die eine ganzheitliche Perspektive vertreten, abwertet, leistet der Wissenschaft einen Bärendienst. Nicht nur, weil dabei ein seltsames und falsches Bild von Wissenschaft entsteht, sondern weil eine Front eröffnet wird, die unnötig ist: Lehrpersonen und an Didaktik interessierte Menschen lehnen datengestützte Erkenntnisse nicht ab. Aber sie müssen in ihrer vielfältigen Tätigkeit darüber diskutieren können.

Edit: 1. bei der Liste der Kriterien am 27. Oktober präzisiert, vgl. hier.

Grundlagenartikel: Umgang mit KI-Programmen im Schreibunterricht

In den letzten Monaten ist es immer einfacher geworden, Zugang zu Programmen erhalten, die automatisiert Texte schreiben. Das führt zur grundsätzlichen Frage, wie ein didaktisch sinnvoller Umgang mit dieser Technologie im Schreibunterricht aussieht. Der folgende Text ist eine Einführung ins Thema und gibt auf verschiedenen Ebenen der Schreibdidaktik Möglichkeiten zur Einordnung von KI-Programmen. Der Beitrag wird laufend überarbeitet und erweitert.

Was sind und was können KI-Schreibprogramme?

Grundsätzlich handelt es sich um Algorithmen, die Textmuster imitieren. Übers Internet können sie auf eine enorme Menge von Texten zugreifen und so abgleichen, ob der Text, den sie produzieren, den wesentlichen Merkmalen von Vergleichstexten entspricht. Die Programme folgen nicht einem festgelegten Ablauf (niemand hat einprogrammiert, wie sie schreiben), sondern sie lernen beim Schreiben besser zu schreiben. Deshalb spricht man in ihrem Zusammenhang von »künstlicher Intelligenz«, weil sie Muster imitieren und dabei dieses Verfahren gleichzeitig optimieren.

Wir können uns exemplarisch an GPT-3 und an DeepL orientieren – andere und künftige Programme werden ähnlichen Prinzipien folgen. Beide Tools haben eine sehr einfache Oberfläche. Bei GPT-3 erscheint ein leeres Fenster, in das ich eine Anweisung in einer beliebigen Sprache schreibe. Diese Anweisung interpretiert GPT-3, indem es einen Text verfasst:

DeepL bietet zwei Fenster an: Ins eine schreibe (oder kopiere) ich einen Text, der dann in eine Zielsprache übersetzt wird.

Die Qualität der Texte ist grundsätzlich hoch. Für nicht-persönliche Alltagstexte funktionieren die Programme schnell und zuverlässig. Zudem lernen sie laufend dazu: Je mehr sie benutzt werden und je mehr Texte digital abrufbar sind, desto stärker werden die Tools.

Wir können also zusammenfassen: KI-Schreibprogramme können standardisierte Schreibaufgaben automatisiert bearbeiten und für den Alltag brauchbare Texte generieren.

Schwächen von KI-Schreibprogrammen

Gleichwohl haben die Algorithmen Beschränkungen:

  1. Die Programme verfügen über kein außersprachliches Kontextwissen. Sie wissen nicht, wie ich in der Regel schreibe, wo ich wohne, wen ich kenne etc.
  2. Kohärenz und Einheitlichkeit sind bei längeren Texten oft nicht gewährleistet.
  3. Umgang mit Fachbegriffen zuweilen unsauber, sowohl DeepL als auch GPT-3 schreiben mit Standard-Einstellungen keine brauchbare Fachsprache.
  4. Bei mehrdeutigen Wendungen muss sich das Programm für eine Version entscheiden, die zuweilen falsch ist.

(Eine genauere Diskussion der Funktionsweise von GPT-3 findet sich in diesem Aufsatz.)

Was bedeutet das für Lernende und Schreibkompetenz?

Wenn nun eine Alltags- oder Unterrichtsaufgabe darin besteht, einen Text zu verfassen oder zu übersetzen, dann können Lernende grundsätzlich auf diese Tools zurückgreifen. Ob sie das getan haben oder nicht, lässt sich kaum überprüfen (GPT-3 liefert immer wieder neue Texte zu denselben Inputs, DeepL-Übersetzungen verändern sich von Tag zu Tag).

Die Tools werden wie eine Stahlfeder, ein Radiergummi oder ein Textverarbeitungsprogramm selbstverständlicher Bestandteil von Schreibprozessen werden. Wer kompetent schreibt, nutzt sie. Schreiben ist und war nie technologiefrei, sondern ist ein Prozess, der verfügbare Technologie einbezieht.

Das Ende der Aufsatz- und Übersetzungsdidaktik

Fachdidaktisch sind Aufsätze zu kontextlosen Fragestellungen (»Was ist Mut?«) und Übersetzungen seit Jahrzehnten überholt. Deshalb ist es keine grundsätzliche Katastrophe für den Sprachunterricht, dass diese Algorithmen nun in dieser Qualität offen verfügbar sind. Etwas polemisch könnte man festhalten, dass Algorithmen nur Schreibaufgaben unterminieren, die an sich schon problematisch sind. Die Möglichkeit, im oder außerhalb des Unterrichts auf Programme GPT-3 zugreifen zu können, beendet nun faktisch die Arbeit mit klassischen Aufsatzthemen.

Orientiert man sich aber an prozessorientierten Kompetenzmodellen des Schreibens (mehr dazu unten), dann sind GPT-3 und DeepL nichts als Werkzeuge, die Schreibaufgaben erleichtern können.

Da im Unterrichtsalltag oft auch an Teilkompetenzen im Fokus stehen, kann es sinnvoll sein, kurze Texte schreiben und übersetzen zu lassen. Die Versuchung, hier mit Tools Abkürzungen zu nehmen, ist bei Schüler*innen sicher vorhanden. Damit sabotieren sie ihre eigenen Lernprozesse genauso, wie wenn sie bei Nachbar*innen abschreiben, bei den Lösungen nachsehen, die Aufgabe von der älteren Schwester erledigen lassen etc. Die Lösung ist hier nicht Überwachung oder Bestrafung, sondern die Etablierung einer konstruktiven Lernkultur.

Unterrichts- und Lernkultur

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass einige Schüler*innen diese neueren Tools genauso nutzen werden, wie sie Texte aus dem Internet kopiert und abgeschrieben haben. Damit zeigt sich, dass ein offener, vertrauensvoller und auch kritischer Umgang mit Technologie in einem guten Unterricht zentral ist.

Das bedingt eine Unterrichtskultur, in der Schüler*innen lernen wollen und lernen können. Werden sie mit Aufgaben unter Druck gesetzt, beginnen sie eher heimlich einen Text von GPT-3 schreiben lassen, als wenn sie verstehen, wie sie ihre Schreibkompetenz entwickeln können. Stehen Noten im Vordergrund der Schule, dann werden Schüler*innen versuchen, mit unbekannten oder auch verbotenen Tools bessere Bewertungen zu erhalten.

So läuft es an deutschsprachigen Schulen nicht ganz – könnte es aber… 

KI-Tools als Teil des Schreibprozesses

Guter Schreibunterricht orientiert sich an (materialgestützten) Prozessen: Eine Schreibaufgabe wird geplant, orientiert sich an geeigneten Materialien (Notizen, Fachtexten, Vorlagen etc.), entworfen, überarbeitet, mit Feedback versehen, reflektiert etc. KI-Programme bedeuten nun eigentlich nur, dass ein neuer Prozess hinzukommt. Oder mehrere Prozesse.

Becker-Mrotzeck und Schindler, 2007

Betrachtet man das oben abgebildete Modell, so wird deutlich, dass ein Tool wie GPT-3 auf verschiedenen Ebenen eine Rolle spielt:

  1. Medium: Wird mit einem Computer geschrieben, so stellt das hohe Anforderungen an das Wissen, wie entsprechende Programme funktionieren. Algorithmen werden zunehmend in Textverarbeitungsprogramme integriert, so dass Word oder GoogleDocs Funktionen enthalten, die mit algorithmischer Sprachproduktion zusammenhängen.
  2. Prüfverfahren: Schreibende müssen nicht eigene Formulierungen prüfen, sondern maschinell generierte – semantisch, syntaktisch und textbezogen.
  3. Kombination von Texten: Von KI-Tools generierte Texte müssen mit Textvorlagen und eigenen Textteilen kombiniert werden. Dabei müssen Orthografie und Lexik vereinheitlicht werden, Bezüge hergestellt werden etc.
    (Interessant ist hier dieses Beispiel für eine Facharbeit, die mit GPT-3 verfasst wurde.)
  4. Kombination von automatisierten und nicht-automatisierten Prozessen: KI-Tools können für verschiedene Schreibaufgaben eingesetzt werden. Beispielsweise kann die Ideenfindung für einen Text über nicht-maschinelles Brainstorming erfolgen, über einen Austausch in einem Gespräch mit anderen Personen oder durch einen ersten Durchgang mit GPT-3. Dasselbe gilt für die Überarbeitung von Texten. (DeepL kann z.B. alle Kommafehler entfernen.)
  5. Metakognition: All diese Verwendungskontexte führen zu umfangreichen Reflexionen darüber, wie Schreiben funktioniert, wie es der schreibenden Person leicht fällt, wie wirksame Passagen entstehen. Die Verwendung von KI-Tools dürfte wie die Wahl von Schreibinstrumenten etc. höchst subjektiven Bedingungen unterworfen sein. Zu verstehen, wie automatisierbare und subjektiv bedeutsame Prozesse verbunden sind, ist eine komplexe Aufgabe für die Reflexion, die beim Schreiben mit Rückmeldungen von Leser*innen verbunden werden sollte.

Die Verfügbarkeit von KI-Tools zeigt, dass zunächst die Komplexität steigt. Gleichzeitig werden andere Prozesse weniger wichtig: Z.B. sollte Orthografie mittelfristig ein vernachlässigbares Problem darstellen, weil die Automatisierung hier relativ einfach korrekte Texte herstellen kann (vgl. diesen Test automatisierter Schreibtools).

KI-Tools im Unterricht

Ausgehend von diesen Grundlagen und Einsichten lässt sich nun konkret formulieren, was diese Werkzeuge für den Unterricht bedeuten. Aus meiner Sicht ist das die produktivere Frage, als von einer Disruption des Bestehenden auszugehen, auf die dann reagiert werden muss.

Doris Wessels formuliert aus dieser Perspektive etwa Handlungsempfehlungen, die sich auf bestehende Schreib- und Prüfungslogiken (an Hochschulen) beziehen. U.a. handelt es sich um folgende Tipps, die Urs Henning zusammengefasst hat:

  • projektorientierte, praxisrelevante Aufgabenstellungen ausweiten
  • einzigartige und singuläre Fragestellungen präferieren
  • den Anteil mündlicher Prüfungen im Vergleich mit schriftlichen Arbeiten erhöhen
  • Aufklärungsarbeit und Weiterbildung für Lehrende forcieren
  • einen Verhaltens- und Ehrenkodex fest in der Prüfungsordnung verankern

Diese Empfehlungen sind aktuell sicher alle korrekt, helfen aber nicht dabei, Lernenden dabei zu helfen, kompetent mit KI-Werkzeugen und Schreibaufgaben umzugehen.

Deshalb formuliere ich fünf Lernziele, an denen sich Sprachunterricht orientieren kann.

Lernziel 1: Verständnis und Beherrschung

Lernende sollten KI-Tools kompetent nutzen können: Das beginnt beim Zugang, für den oft Accounts nötig sind und teilweise englischsprachige Menus erschlossen werden müssen und führt über die konkrete Bedienung bis zum Umgang mit den Ergebnissen.

Gleichzeitig brauchen sie ein rudimentäres Verständnis dessen, was im Hintergrund abläuft. Hilfreich sind hier z.B. Aufgaben, die dabei helfen, die Funktionsweise von Werkzeugen zu vergleichen – etwa leicht veränderte Sätze mit DeepL übersetzen oder GPT-3 nutzen, um unterschiedliche Witze erklären zu lassen (die Idee stammt aus diesem Essay von Steven Johnson).

Lernziel 2: Einsatz bei der Bewältigung von Schreibaufgaben

Ist ein Verständnis vorhanden, können bei Schreibaufgaben, die sich an anderen Lernzielen orientieren, die didaktisch festgelegt werden, diese Tools eingesetzt werden.

Hier bietet sich ein spiralförmiger Ansatz an, bei dem dieselben Zug immer wieder Verwendung finden, aber mit gesteigerten Ansprüchen und Komplexität. So könnte z.B. GPT-3 zunächst für einen Entwurf einer Einleitung verwendet werden, dann für mehrere Teile eines Textes und dann fürs Überarbeiten etc.

Lernende wenden so also KI-Tools praktisch an und kennen sich dadurch besser mit ihrer Anwendung aus, können aber gleichzeitig auch besser beurteilen, welche Leistungen die Tools erbringen.

Lernziel 3: Reflexion und Ethik

Kürzlich habe ich mit einer Klasse unterschiedliche Gedichte mit KI-Programmen erzeugt: Lerneinheit Wir erzeugen ein Gedicht

Teil solcher Lernphasen ist immer, darüber nachzudenken, was es bedeutet, automatisiert Lyrik zu generieren. Welche Muster lassen sich beobachten? Wo liegen Grenzen der KI? Wie sind die entstandenen Texte zu beurteilen? Kann Kunst automatisch generiert werden?

Solche Fragen sind bei der Verwendung von entsprechenden Programmen wichtig. Zur Reflexion gehören auch ethische Fragen: Dürfen Schreibende KI-Texte als eigene ausgeben? Unter welchen Bedingungen ist das eher, unter welchen gar nicht denkbar? Wie können in gemischten Texten KI-Anteile seriös ausgewiesen werden?

Letztlich stellen sich generelle Fragen: Wozu schreiben Menschen (und Programme)? Wer drückt in Texten was aus? Was kann (und soll) Schreiben in einer Kultur der Digitalität bedeuten?

Lernziel 4: Literarisches Lernen

Die oben erwähnte Lerneinheit arbeitet mit Bildern, aus denen dann Gedichte automatisiert generiert werden. Solche Transformationen sind viele denkbar. Sie können sichtbar machen, wie ein Algorithmus einen künstlerischen Prozess modelliert (bzw. welche Muster er abruft, um einen künstlerischen Prozess zu simulieren).

Generell können im Umgang mit literarischen Texten KI-Tools genutzt werden, um sichtbar zu machen, wie Vorlagen funktionieren und welchen Regeln sie gehorchen. Sehr einfach sichtbar gemacht werden kann das, indem Programme genutzt werden, um Vorlagen weiterzuschreiben. Hannes Bajohr hat das schon sehr früh mit Kafka-Texten gemacht, die sich dafür sehr gut eignen. Eine Skizze für den Umgang mit Prosa, Lyrik und Dramatik findet sich in diesem Blogpost:

Lernziel 5: Experimente und kreativer Umgang

Mittlerweile gibt es eine Reihe von journalistischen Texten, die von GPT-3 (mit-)geschrieben worden sind – kürzlich ist z.B. ein solcher Beitrag im NZZ Folio erschienen. Das ist ein einfacher Ansatzpunkt für den Unterricht: Testen, welche Schul- und Alltagstexte in welcher Qualität automatisiert generiert werden können.

Solche Versuche können dann einen Ansatz bieten, um subversive Experimente zu machen und mit den Möglichkeiten und Schwächen der Programme zu spielen. Hier können Lernende wohl schnell eigene Ideen generieren, mit welchen Anweisungen die Tools gefüttert werden könnten.

Ausblick

Aktuell läuft in der Schweiz eine Aktion, bei der ein Digitalaktivist Schüler*innen dabei hilft, längere Facharbeiten automatisch zu generieren. Versuche, so einerseits die Anforderungen von Schulen oder Universitäten zu umgehen, andererseits auf die bestehenden technischen Möglichkeiten aufmerksam zu machen, wird es in den nächsten Jahren einige geben. Sie zeigen zwei Dinge: Schulen und Unterricht durchlaufen erstens die digitale Transformation und müssen darauf Rücksicht nehmen, welche Aufgaben automatisiert werden können. Zweitens steht die aktuelle Bewertungskultur zeitgemäßen Lernformen im Weg. Lernende haben in Bezug auf ihre Entwicklung nichts davon, wenn sie eine wichtige Arbeit mit zahlreichen Lerneffekten automatisieren lassen – in Bezug auf ihre Noten hingegen schon.

Besonders interessant sind solche Effekte aber nicht: Gewisse Menschen werden immer wieder verblüfft sein, wie leistungsfähig Programme sind. Ihr Reflex wird dann auch immer wieder dazu übergehen, diese Möglichkeiten zu verbieten und den Zugang dazu einzuschränken.

Wichtiger werden aber didaktisch die Fragen sein, wie ein kompetenter Umgang mit Werkzeugen aussieht, wie eine Zusammenarbeit von Menschen und Maschinen angeleitet und gestaltet werden kann.

Interaktive Gespräche unter Lernenden als Kernvorstellung des Gymnasiums

Kürzlich habe ich hier beschrieben, weshalb ich aktuell eine Krise des Gymnasiums ausmache. Grundsätzlich geht es darum, dass das Gymnasium nicht konzipiert ist, um der gesellschaftlichen Transformation zu begegnen, die im Rahmen einer umfassenden Digitalisierung in den letzten Jahrzehnten erfolgt ist. In den folgenden Abschnitten möchte ich zeigen, wie eine Umgestaltung gelingen könnte.

Aus der Perspektive der Lernenden äußert sich das Problem oft im Wunsch, in bestimmten Fächern den Stoff einfach zuhause bearbeiten zu können, um dann Prüfungen abzulegen. Der Wunsch zeigt eine Wahrnehmung des Unterrichts, die im unten abgebildeten ICAP-Framework (hier der wissenschaftliche Aufsatz dazu) der Qualitätsstufe »passiv« entspricht. Kai Niebert wird in einem Beitrag fürs UZH Magazin wie folgt zitiert:

Auch heute bestehen noch rund 90 Prozent des Unterrichts insbesondere in den Gymnasien in der abstrakten Vermittlung von Wissen. Manchmal ist das richtig und notwendig, sagt Niebert. Doch gleichzeitig ist für ihn klar: «Bedeutungsvolles Wissen entsteht, wenn neue Informationen für uns relevant sind und wir sie im Alltag einsetzen und verbinden können mit bereits Bekanntem.»

Niebert: Glückshormone fürs Hirn, UZH Magazin 3/22

Im ICAP-Framework bedeutet das: Gymnasialer Unterricht muss konstruktiv und interaktiv werden. Chi und Wylie verstehen darunter Dialoge, welche folgendes Kriterium erfüllen:

[…] dialogues are truly interactive only if each speaker’s utterances generate some knowledge beyond what was presented in the original
learning materials and beyond what the partner has said;
thus, both partners need to be constructive.

Chi & Wylie 2014

Interaktivität hat also nichts damit zu tun, digitale Geräte zu benutzen – obwohl auch ein Programm ein Partner im Sinne von Chi und Wylie sein kann, wenn Lernende in eine Art Dialog damit treten, bei dem sowohl das Programm als auch die Lernenden Wissen erarbeiten können.

Geht man von dieser Gesprächsvorstellung aus, hat man einen einfachen Kern von dem, was qualitativ hochwertige Bildung am Gymnasium darstellt: Gespräche, bei denen Lernenden in der Interaktion mit anderen Lernenden Wissen generieren. Nimmt man die Einsichten von Niebert dazu, dann sollte dieses Wissen für Lernende relevant sein und einsetzbar in ihrem Alltag.

Ausgehend von dieser Einsicht kann man nun leicht beschreiben, weshalb z.B. eine Digitalisierung von Frontalunterricht auf einer qualitativ tiefen Stufe im Modell von Chi und Wylie stehen bleibt: Weil Erklärfilme oder digitale Skripte Lernenden keine solchen konstruktiven Interaktionen ermöglichen, sondern sie sogar verhindern. Wer sich durch Interfaces klicken muss, kann Wissensbestände weder verbalisieren (eine Bedingung für Chi und Wylie) noch sie im Alltag mit Bekanntem verknüpfen.

Dasselbe gilt für Fachkulturen, die weiterhin am Primat des Stoffes festhalten: Ein Mathematik- oder Biologieunterricht, in dem Themen »durchgenommen« werden, verwendet Settings, die geradezu verhindern, dass Lernende in Dialoge treten können.

Gute gymnasiale Bildung muss Möglichkeiten für tiefschürfende Lerngespräche schaffen, vielfältige Interaktionen ermöglichen, in denen relevantes Wissen aufgebaut werden kann. Die Angst, Lehrpersonen würden dann auf die Rolle von »Coaches« reduziert, schwingt bei solchen Aussagen immer mit – sie ist nicht berechtigt. Lehrpersonen nehmen ebenfalls an solchen Gesprächen teil, sie lernen dazu. Sie sind Partner*innen beim Lernen von Schüler*innen, sie ermöglichen es. Aber sie dozieren nicht mehr, weil das eine qualitativ wenig wertvolle Lernmethode darstellt.

Evaluiert man Unterricht, dann müsste diese Frage im Vordergrund stehen: Können Lernende interaktive Dialoge führen, in denen sie neues Wissen generieren? Ist das der Fall, ist Unterricht gelungen – wenn nicht, muss er verbessert werden.

Dabei spielt es nun keine Rolle mehr, ob digitale Medien eingesetzt werden oder nicht. Wir sind beim postdigitalen Gymnasium angelangt.

Sekundarstufe II für alle – ein konkreter Vorschlag

Aktuell steht das Bildungssystem vor zwei konkreten gesellschaftlichen Herausforderungen, die verbunden sind mit einer tiefgreifenden Transformation der Lebens- und Arbeitswelt: Der »Fachkräftemangel« meint das Problem, dass in Ländern wie der Schweiz nicht genügend qualifizierte Arbeitskräfte vorhanden sind, um die anfallende Arbeit zu verrichten. Bildungsgerechtigkeit ist seine Kehrseite: Viele Kinder und Jugendliche können vom Bildungssystem nicht so profitieren, dass sie zu qualifizierten Arbeitskräften werden können.

Wird das System gerechter, kann es den Anforderungen der Gesellschaft besser genügen. Wie das geschehen könnte, ist recht klar: Fachpersonen betonen etwa immer wieder Angebote im vorschulischen Bereich. (Vertiefte Schlussfolgerungen finden sich hier, insbesondere ab S. 68).

Hier möchte ich einen weiteren Vorschlag skizzieren. Er besteht darin, allen Jugendlichen das Recht zu geben, nach der obligatorischen Schulzeit eine dreijährige Schule auf der Sekundarstufe II zu besuchen. Neben gymnasialen Bildungsgängen gibt es heute auf dieser Stufe in der Schweiz die Handels- und Fachmittelschule. Beide sind in der Aufnahme selektiv. Als Alternative gibt es Berufslehren, bei denen entweder Berufs- oder Berufsmittelschullehrgänge besucht werden – kombiniert mit Arbeits- und Ausbildungszeit in Betrieben. Wer es heute nicht schafft, an einen Ausbildungsgang auf der Sekundarstufe II aufgenommen zu werden, muss eine Berufslehre absolvieren.

Mein Vorschlag wäre, das optional zu ändern. Wer eine Schule besuchen möchte, kann das. Denkbar wäre, dass ein Abschluss ungefähr den Stellenwert eines Lehrabschlusses hat, wenn entsprechende praktische Anteile in einem Praktikumsjahr nachgeholt würden. (So wie heute die Handelsmittelschule in Kombination mit einem Praktikum einer KV-Lehre mit BMS entspricht.)

Bildung auf der Sekundarstufe II sollte ein Grundrecht werden – auch wenn jemand keine Lehrstelle findet. »Matura für alle« hat Andreas Pfister seinen Vorschlag genannt, die Schulpflicht auszudehnen. Aus meiner Sicht ist es nicht sinnvoll, von einer Matura zu sprechen – sinnvoll wäre, »Sekundarstufe II für alle« zu fordern.

Das entwertet das duale System nicht. Wenn Jugendliche berufliche Lehren nicht attraktiver finden als drei Jahre Schule, dann müssten sich diese Ausbildungsgänge wandeln und attraktiver werden. Davon ist aber heute nicht auszugehen. Gerade aber für Jugendliche, die sich noch nicht sicher sind, wie ihre Berufswahl aussieht, die einen Anschluss für die obligatorische Schulzeit suchen, wäre ein Anrecht auf einen Schulbesuch nach der 9. Klasse sinnvoll.

Und wenn dieses Recht eingeführt wäre, könnte man darüber nachdenken, auch tertiäre Bildung für alle Menschen zu öffnen – unabhängig davon, ob sie eine Matur mitbringen. Auch hier geht es nicht darum, das Niveau bestimmter Bildungsgänge zu senken und alle Medizin studieren zu lassen – sondern allen Menschen Angebote zu machen, von denen sie profitieren können.

Es ist absehbar, dass die Zukunft der Schweiz auch mit der Bildung ihrer Bevölkerung zusammenhängt, denn Bildung – und vor allem mehr und längere Bildung für möglichst viele in nachwachsenden Generationen – ist die wichtigste Investition in die Zukunft.

Soziale Selektivität – Empfehlungen des Schweizer Wissenschaftsrats
Sam Balye, Unsplash

Warum Lehrpersonen wie Schauspieler*innen in Serien agieren

Kürzlich habe ich Severance (Apple TV) abgeschlossen – eine beeindruckende Serie. Bei allen Serien, die ich mir ansehe, höre ich begleitend Podcasts. Dort werden oft Schauspieler*innen interviewt. Bei Fragen, welche die Bedeutung der Handlung betreffen, verweisen sie oft darauf, dass sie lediglich wissen, was im Skript steht. Oft führen sie an, dass sie nicht mehr wissen, als für die Aufnahme ihrer Szenen nötig war.

Hier gibt es eine Parallele zu uns Lehrpersonen. Wir verstehen oft auch nicht, was das Big Picture ist, wie unsere Lektionen, unser Unterricht, unsere Gespräche sich auf Schüler*innen und ihr Leben auswirken. Woran sie sich erinnern, was sie prägt, was ihnen hilft und was sie belastet. Wir haben einen kleinen Wirkungskreis, den wir überblicken – was wir tun, hat aber eine längerfristige, breitere Resonanz.

Das Argument gegen Fächer ist keines gegen Fachlichkeit

Fächer sind eine der Boxen, welche Schulen und Bildung beschränken – und gleichzeitig auch strukturieren. Das wird besonders deutlich, wenn ein gesellschaftlich heiß diskutiertes Thema zu Forderung führt, ein neues Schulfach müsse eingeführt werden. Diese Forderung zeigt, dass über Fächer Verbindlichkeit zu erreichen ist.

Weil Fächer beschränken, ist auch die gegenteilige Position verständlich: Fächer komplett abzuschaffen. Schüler*innen sollten vertieft kompetenzorientiert an interdisziplinären Problemstellungen arbeiten, und dabei nicht durch willkürliche Stundenpläne und Fächer beschränkt immer wieder aus der Arbeit gerissen werden.

Ich vertrete diese Position und sehe Fächer insbesondere in einem gymnasialen Kontext als zentrales Problem. Gleichzeitig muss das Argument gegen Fächer aber präziser vorgebracht werden. Das versuche ich in den folgenden Abschnitten – die auch zeigen, weshalb die Position eher idealistisch als realistisch ist.

Funktionen von Fächern

Fächer haben unterschiedliche Aufgaben, die sich unterschiedlich bewerten lassen. Wie viele andere Boxen ist eine Auflösung nur dann sinnvoll diskutierbar, wenn Lösungen für alle Funktionen gefunden werden. Hier die Funktionen, die Fächer übernehmen:

  1. Demokratische Legitimation der Inhalte (und Kompetenzen)
    Über Fachlehrpläne wird sichergestellt, dass schulisches Lernen dem entspricht, was gesellschaftlich erwünscht wird. Lehrpläne werden in demokratischen Ländern in partizipativen Verfahren erlassen und modifiziert. Fächer ermöglichen hier eine Struktur und Orientierung.
  2. Fokus für die Ausbildung der Lehrpersonen
    Lehrende werden für den Unterricht bestimmter Fächer ausgebildet. Fachwissenschaft und Fachdidaktik stellen sicher, dass die nötige Expertise in den Schulen vorhanden ist. (Deshalb ist die Forderung nach neuen Fächern oft auch verständlich, weil sie impliziert, dass Menschen ausgebildet werden, die Kinder und Jugendliche in bestimmten Fragen bilden können.)
  3. Zeiteinteilung
    Fächer bestimmen, wie viel Zeit Lernende mit welchen Themen verbringen. Das vereinfacht Organisation, weil so z.B. festgelegt werden kann, wann welche Lehrpersonen welche Klassen unterrichten etc.
  4. Methodik, Wissenskultur und Systematik
    Fächer stellen sicher, dass Lernende grundlegende Verfahren kennen, mit denen Lernen und Forschen in den Fächern verbunden ist. Durch die Festlegung von Fächern erfolgt hier eine gewisse Koordination und Absprache zwischen Lehrkräften und Schulen, welche Redundanz und Lücken zumindest reduziert.
  5. Unterstützungsangebote durch Lehrbuchverlage und paraschulischen Unterricht
    Fächer stellen sicher, dass Nachhilfeunterricht und Schulbücher passen. So kann schulische Bildung durch zusätzliche Arbeit gestützt und bereichert werden.
  6. Adaptivität der Anstellungen
    An einigen Schulen werden Lehrpersonen für den Unterricht bestimmter Fächer angestellt (und bezahlt). So kann sichergestellt werden, dass es nicht zu viele (oder zu wenige) Lehrpersonen gibt.
  7. Prüfungs- und Bewertungskultur
    Prüfungen finden in Fächern statt, diese werden benotet. Die Noten aller Fächer können zusammengerechnet werden und so Grundlage für schulische Entscheide darstellen.

Das Argument gegen Fächer ist ein Argument gegen starre Zeiteinteilung und Prüfungskultur, ein Argument gegen fehlende Verbindung. Es ist keines gegen Expertise oder fachwissenschaftliche Wissenskultur. Bearbeiten Lernende interdisziplinäre Problemstellungen – wenn das zu abgehoben klingt: kommunizieren sie im Fremdsprachenunterricht mit Menschen, welche diese Sprache sprechen? –, dann brauchen sie für die Vorbereitung, die Begleitung und die Reflexion Fachlehrperson, die sich mit verschiedenen fachlichen Aspekten und darauf bezogenen Lernprozessen auskennen. Daran ändert sich nichts.

Agilität oder Effizienz?

Betrachtet man die Liste mit Funktionen, dann sieht man, dass Fächer nicht umsonst eine wichtige Box für Schulen sind: Sie stellen ein effizientes Bündel von Massnahmen dar, die Orientierung bieten können. Sie mit agileren Verfahren der Zeiteinteilung und der Anstellung von Lehrpersonen zu ersetzen, erfordert Vertrauen in diese Verfahren und Qualitätskontrollen jenseits von einfachen Checklisten.

Oder anders gesagt: Eine Abschaffung von Fächern kann dann gelingen, wenn gute Rahmenbedingungen dafür vorhanden sind. Schulen, die sich entwickeln können, genügend Zeit von Lehrpersonen, Möglichkeit von Schulbesuchen und Absprachen über das Festlegen von Lehrmitteln und Lehrplänen hinaus.

Fehlende Ressourcen

Das ist aktuell wohl illusorisch. Fächer sind eine Box, die es an Schulen, die schlecht ausgestattet sind, weiterhin braucht. Wie es Noten in einer Gesellschaft braucht, die Bildungsressourcen nur beschränkt zur Verfügung stellt. Oder klassische Schulzimmer in Gebäuden, die zu klein sind, um allen Schüler*innen einen Lernort zu bieten, an denen sie sich wohlfühlen.

Gymnasium in der Krise – 10 Thesen

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist ein Eindruck, der sich bei mir seit den Fernunterrichtphasen eingestellt hat: Schüler*innen »fühlen« das Gymnasium nicht mehr, wie sie selber sagen würden. Sie erleben den Unterricht nicht als erfüllend, werden in mit ihren Bedürfnissen zu wenig wahrgenommen und bleiben aus Mangel an Alternativen an den Schulen – nicht, weil sie davon magnetisch angezogen werden. Das Gymnasium hat seine Strahlkraft, seine Identität, seinen Kern verloren. Dazu habe ich Thesen formuliert, die einerseits zeigen, wie es soweit hat kommen können, und andererseits auch Wege aus dieser Krise aufzeigen. Krisen sind ja bekanntlich immer auch Chancen.

Ich arbeite an einem Gymnasium in der Stadt Zürich. Selbstverständlich kann das Gefühl einer Krise etwas Lokales und Subjektives sein. Unter Umständen nehme ich kritische und unzufriedene Stimmen besonders stark wahr. Vielleicht betrifft die Krise die Region Zürich besonders etc. Mit meinen Thesen erhebe ich bewusst keinen absoluten Anspruch, sie sind als Denk- und Diskussionsanstöße gedacht, um sich über Zusammenhänge und Eindrücke zu verständigen.

These 1:
Trotz Krise sind Gymnasien beliebt.

Die Krise der Gymnasien ist qualitativ – sie bezieht sich auf das Sinnerleben von Schüler*innen. Die Krise bedeutet, dass sie zwar viel Zeit an Gymnasien verbringen, diese Zeit aber nicht als wertvolle Investition betrachten. Das ändert aber kurz- und mittelfristig nichts daran, dass sehr viele junge Menschen Gymnasien besuchen wollen. Eine quantitative Krise gibt es aktuell nicht. Das mag paradox erscheinen. Kann das Interesse an einer Institution während einer Krise ungebrochen bleiben? Aus meiner Sicht durchaus. Erstens besuchen viele junge Menschen Gymnasien, weil ihre Eltern das erwarten. Ob sie selber das für ihre Kinder später auch wollen würden? Diese Frage zeigt: Wir merken die quantitativen Auswirkungen der Krise verzögert. Zweitens fehlt es schlicht an Alternativen. Viele Jugendliche haben keine Wahl. 

These 2:
Gymnasien sind für Lehrkräfte konzipiert, nicht für Schüler*innen.

Wer im deutschsprachigen Raum an Gymnasien unterrichtet, ist privilegiert: Im Vergleich mit allen anderen Lehrpersonen sind die Unterrichtsverpflichtungen tief, die Löhne hoch, die Freiheiten ausgeprägt und die Schüler*innen kooperativ und leistungsfähig. Diese Privilegien führen oft zu einer Anspruchshaltung: Unterricht muss zuerst den Bedürfnissen von Lehrenden entsprechen, bevor es um die der Lernenden geht. Deutlich wird das immer dann, wenn Schüler*innen aus nordamerikanischen Schulen an Gymnasien wechseln: Sie werden oft als unanständig wahrgenommen, weil sie Ansprüche an Lehrkräfte stellen. Viele Lehrpersonen an Gymnasien sehen sich als die einzigen, die Erwartungen äußern dürfen. Die Lernenden hingegen sollten Anforderungen entsprechen, weil sie sonst an der falschen Schule sind.

Lehrpersonen an Gymnasien können sich – ausgehend von ihrer eigenen Schulerfahrung und den Erwartungen an Schüler*innen – darüber empören, dass Lernende bestimmte Verhaltensweisen zeigen oder Ansprüche stellen. »Es kann doch nicht sein, dass…« ist oft der Ausgangspunkt für die Einsicht, dass es tatsächlich ist ist (und sein kann). Ein Beispiel: Es gibt Schülerinnen am Gymnasium, die nicht lesen. Sie kennen subjektive Lektüre als Genuss oder Form der Welterschließung nicht mehr. Sie müssen gezwungen werden, Texte oder Bücher zu lesen, freiwillig würden sie es nie tun. Der Wunsch, das möge anders sein, kann weder erklären, warum es tatsächlich so ist – und er kann auch an dieser Realität nichts ändern. Und so gibt es an Gymnasien oft Zwang oder Druck, wo eigentlich eine Bereitschaft der Lernenden stehen müsste. Das beginnt bei der Absenzenkontrolle und endet bei Prüfungen.

Was hier hilft, sind Erklärungen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Um sie zu verstehen, muss man die Sichtweise von Lernenden ernst nehmen, sie in die Gestaltung von Schule und Unterricht einbeziehen. Die Zurückweisung dieser Bedürfnisse belastet Gymnasien.

These 3:
»Gymnasiale« Bildung lässt sich nicht individualisieren.

»gymnasial« ist eine Eigenschaft, welche bei Schüler*innen vorausgesetzt wird. Gemeint ist damit meist, dass Lernende bildungsbürgerliche Werte mitbringen und von den Eltern schon ein Interesse für Literatur, Naturwissenschaften, musisches Lernen und die Bereitschaft für die Erarbeitung von Schulstoff vermittelt bekommen haben. Die Eigenschaft, »gymnasial« zu sein, kann nicht mehr vorausgesetzt werden. Das ist aber grundsätzlich kein Problem: Alle Jugendlichen bringen Erfahrungen und Weltwissen mit, das ihre Perspektive zu einer wertvollen Ressource für eine zeitgemäße Schule macht. Aber Gymnasien können diese Perspektiven oft nicht abholen, weil sie nur für »gymnasiale« Menschen designt sind. Diversität sollte eine Chance für Gymnasien sein, nicht ein Problem.

Das Problem entsteht deshalb, weil gymnasialer Unterricht an den 7G orientiert ist: Gleichaltrige Schüler*innen bearbeiten im gleichen Raum zur gleichen Zeit auf die gleiche Art und Weise mit der gleichen Lehrperson die gleichen Inhalte – und orientieren sich dabei an den gleichen Zielen.

Von all diesen 7G müssten Gymnasien sich lösen können. Dabei verlieren sie aber ihre Identität, die Orientierung daran, was »gymnasial« ist.

These 4:
Der Kanon ist aufgelöst.

Was Jugendliche am Ende des Gymnasiums wissen sollten, ist so umstritten wie nie zuvor. Man kann sich über die Forderung amüsieren, dass Steuererklärungen wichtiger sind als Gedichtanalysen – sie zeigt aber letztlich, dass alles verhandelbar geworden ist. Es gibt (vielleicht abgesehen von einem Verständnis des Holocausts und dem Erlernen einer Fremdsprache) keinen Inhalt, bei dem man nicht mit vernünftigen Argumenten zeigen könnte, dass er nicht alle Jugendlichen bedeutsam ist. Gymnasien können sich nicht mehr über Wissensbestände definieren. Weder quadratische Gleichungen noch Faust sind Orientierungspunkte. Das führt dazu, dass Identifikation deutlich schwieriger geworden ist: Gymnasien sind nicht mehr Schulen, wo eine Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten möglich ist. Das hat selbstverständlich auch mit Digitalität zu tun: Wer sich Faust geben will, kann das an jedem Computer tun. Dazu braucht es keinen gymnasialen Deutschunterricht mehr.

Der Kanon wird nicht mehr zurückkommen. Aus bildungsbürgerlicher Perspektive stellt sich schnell die Vorstellung ein, er müsse entweder leicht modifiziert oder mit Vehemenz vertreten werden: Sollen doch die Jugendlichen wieder Homer und Shakespeare lesen und sich mit Thermodynamik auseinandersetzen! Doch das sind alles Verteidigungsstrategien, die nichts ausrichten können: Jugendliche erleben, dass ihr Alltag von komplexen Prozessen bestimmt wird, die im gymnasialen Kanon nur am Rande vorkommen. Über die Kanon-Strategie gelangt man nicht zu einem Verständnis dieser Prozesse.

These 5:
Fächer sind das Problem und die einzige Lösung.

Entwicklung der Fächerverteilung am Gymnasium am Münsterplatz Basel, Darstellung NZZ Folio

Das Fächerproblem habe ich bereits ausführlich beschrieben. Grundsätzlich besteht es darin, dass Unterricht, Wissensmanagement und Zeitplanung immer über eine Fächereinteilung gedacht wird, die einseitig und lückenhaft ist. Das Problem hat verschiedene Facetten, von denen ich hier vier kurz erwähnen möchte:

  1. Grabenkämpfe.
    Lehrpersonen sind oft für ihr Fach angestellt. Sie verteidigen es bei Reformen und müssen, oft auch aus gewerkschaftlichen Gründen, dafür Sorgen, dass ihr Fach möglichst viel Zeit beansprucht – unabhängig davon, ob das für Schüler*innen sinnvoll ist.
  2. Interdisziplinarität als Floskel.
    Die Bearbeitung von Problemen erfordert einen Zugang von verschiedenen Fächern. Beispielsweise gibt es heute keine wissenschaftliche Tätigkeit mehr, bei der Kommunikation, Projektmanagement, betriebswirtschaftliche Planung, digitale Verfahren etc. keine Rolle mehr spielen würden. All das ist immer verbunden. An Gymnasien wird es immer wieder aufgetrennt, so dass interdisziplinäres Lernen eigentlich gar nicht möglich ist.
  3. Zeiteinteilung.
    Fächer führen kleinen Zeiteinheiten, die vertieftes und intensives Lernen verunmöglichen.
  4. Kein Raum für Innovation.
    Innovation an Gymnasien gibt es auf zwei Arten: Erstens ein neues Fach einführen (was aber niemand will, siehe 1.) – und zweitens Fachlehrpläne überarbeiten. Dabei muss dann gegen etablierte Praktiken und Vorstellungen von fachlichem Lernen angekämpft werden, wenn echte Innovation möglich sein sollte. Oft wird lediglich alter Wein in neue Schläuche gegossen.

These 6:
Visionen fehlen.

Kürzlich habe ich mit Daniel Straub über Schule gesprochen und von ihm einen Gedanken aufgeschnappt: Gymnasien müssten Schulen sein, wo Jugendliche lernen, etwas richtig gut zu können. Das ist eine Vision: Jugendliche dabei unterstützen, bestimmte Stärken zu entwickeln.

Solche Visionen fehlen Gymnasien heute. Schulleitungen und Bildungspolitik sind durchaus bereit, an allen Stellschrauben zu drehen – aber jeweils nur ein wenig. So entstehen tolle Projekte: Etwa Phasenunterricht mit intensiveren Lerneinheiten oder Wochentage ohne Stundenplanbindung. Ausgangspunkt ist oft aber einfach die Wahrnehmung eines Problems, nicht die Orientierung an einem klaren Ziel.

Das hat mit der Doppelfunktion des Gymnasiums zu tun: Einerseits bereitet es auf ein Studium vor, andererseits befördert es die Bildung und Entwicklung junger Menschen. Jede Vision, die sich primär am zweiten Ziel gymnasialer Lehrgänge orientiert, muss sich am ersten messen lassen: Können die Jugendliche, die etwas richtig gut können, jedes Fach studieren? Vielleicht nicht. Und schon zerfällt die Vision, es muss alles so bleiben, wie es ist.

These 7:
Schlechte Bachelor-Studiengänge sind die falsche Orientierung.

Ein schlechtes Bachelor-Modul funktioniert so: Studierende erhalten in Vorlesungen Folien und Skripte, die sie bis zum Prüfungstermin verarbeitet haben müssen. Entweder bestehen sie die Prüfung oder sie wiederholen das Modul. Diese Module verfestigen einen 7G-Unterricht und ignorieren Interessen und Bedürfnisse von Studierenden komplett. Wenn nun gymnasialer Unterricht auf schlechte Bachelor-Module vorbeiten soll, wird er auch schlecht (oder bleibt schlecht).

Besser wäre, gymnasialer Unterricht würde sich an Master-Studiengängen orientieren. Dort müssen Studierende selbstorganisiert, interdisziplinär, projektorientiert und kreativ arbeiten – was sie oft nicht gut können, weil das an Gymnasien und im Bachelor-Studium nicht gefragt war.

These 8:
Technische hat pädagogische Schulentwicklung ersetzt.

Bedingt durch die Pandemie und die digitale Transformation haben Gymnasien in den letzten Jahren enorme Energie in einen technischen Prozess investiert: Wie können digitale Geräte in den Unterricht integriert werden? Dabei sind viele pädagogische Fragen an den Rand gerückt. Wozu diese Gerät wirklich dienen sollten, wie eine zeitgemäße Arbeit in einer digitalen Lern- und Arbeitskultur aussieht – all das haben Schulen aus dem Blick verloren. Entstanden sind so Möglichkeiten, Skripte über eine digitale Plattformen verfügbar zu machen und Folien in den Schulzimmern effizient zu zeigen. Der Aufwand dafür war enorm – und hat einen Preis: Alle anderen wichtigen Formen von Schulentwicklung, die Gymnasien zu guten Orten für Lernende machen.

Ideen zur Entwicklung müssen Gymnasien mit Lehrpersonen und Lernenden zusammen entstehen lassen. Dafür sollte Raum geschaffen werden.

These 9:
Wirtschaftsferne isoliert.

Berufsschulen stimmen sich mit Betrieben in Bezug auf Arbeitsmethoden und Lerninhalte ab. Der Dialog mit Wirtschaftsunternehmen führt zu permanenter Evolution. Gymnasien fehlt diese Offenheit weitgehen. Lernerfahrungen haben oft wenig mit dem zu tun, was in der Arbeitswelt von jungen Menschen erwartet und gefordert wird. Damit ist keine Orientierung an wirtschaftlicher Verwertbarkeit gemeint, sondern ein Abgleich in den Punkten, wo Methoden und Kompetenzen tatsächlich angewendet werden sollen.

Das Problem der Wirtschaftsferne zeigt sich aber auch in der Führung und Personalentwicklung von Gymnasien. Hier müssten Change-Prozesse ebenfalls ansetzen und sich an guten Formen aus der Privatwirtschaft orientieren. Eine Art Karriereplanung von Lehrpersonen ist seit Jahrzehnten ein Desiderat – Realität ist vielerort immer noch: Alle Lehrpersonen machen bis zur Pension dasselbe. Sie wechseln zudem kaum die Schule und haben wenig Erfahrung in nicht-schulischen Betrieben.

So entwickeln Gymnasien ein Eigenleben, das sich immer wieder bestärkt, aber zu wenig offen ist.

These 10:
Selektion und Prüfungskultur verengen den Spielraum.

Gymnasien können Lehrpersonen und Schüler*innen auswählen. Diese Macht der Selektion hat zwei Konsequenzen: Erstens führt sie zu homogenem Denken. Wer die Arbeits- oder Lernkultur an Gymnasien nicht mag, kann gehen. Kritische Lernende und Lehrende sind solange erwünscht, wie sie das System nicht ändern wollen. Kritik auszuhalten, ohne sofort an die Möglichkeit der Selektion zu denken, ist nicht ganz einfach. Entsprechend verengt sich die Perspektive, eine Kultur des Ja-Sagens entsteht. Sie ist nicht besonders gut sichtbar, weil Lehrpersonen und Jugendliche ständig was zu meckern haben. Aber das Meckern bleibt an der Oberfläche, radikale Kritik und die Bereitschaft zur Veränderung werden erschwert und verunmöglicht.
Zweitens erfordert Selektion Verfahren – das sind Prüfungen. Diese Prüfungen bestimmen die Lernkultur und engen die Möglichkeit von Lernerfahrungen ein. Was nicht geprüft werden kann, hat an Gymnasien einen geringen Stellenwert. Werte und Kompetenzen von Lernenden werden immer wieder diskutiert, sie stehen aber im Alltag im Hintergrund. Er besteht zu einem grossen Teil aus der Vorbereitung und Verarbeitung von Prüfungen.

Und nun?

Ich arbeite an einem Gymnasium – und tue das gern. Den Austausch mit Kolleg*innen schätze ich, die Arbeit mit Schüler*innen liebe ich. Und doch denke ich jeden Tag in der Schule: Da wäre so viel mehr möglich, unsere Schulen könnten viel bessere Orte für Jugendliche und Lehrpersonen sein.

Wie werden sie es? Meine Hoffnung: Indem wir immer wieder darüber reden und kleine Schritte gemeinsam gehen. Meine Befürchtung: Kleine Schritte reichen nicht.

Es braucht ein Gymnasium ohne Fächer und ohne Noten, ohne Stundenplan und ohne Kanon. Mit Expertise und Feedback, Verbindlichkeit und hohen Ansprüchen. Lernende müssen jede Woche die Erfahrung machen: Ich habe was geleistet, ich kann etwas besser als in der Woche zuvor, hier findet eine Entwicklung statt. Lehrende sollten stolz sein auf das, was Schüler*innen leisten, und nicht ständig denken müssen: »Es kann doch nicht sein, dass…«

Eine solche Schule zu gestalten wäre ein Traum, der wohl eine Utopie bleibt. Die Schule darf nicht privat finanziert werden, weil sie für alle offen sein muss. Sie braucht enormes Vertrauen von allen Seiten, obwohl es keine Garantien gibt, dass sie Erfolg hat. Ich könnte weitere Hindernisse aufzählen, schließe aber mit einem Wunsch: Dass Gymnasien den Mut aufbringen, einzelne Breschen zu schlagen und sich neu erfinden – statt weiter das verwalten, was sie schon immer waren.

Das ist auch deshalb wichtig, weil die gymnasiale Lernkultur auf alle Teile des Bildungssystems Einfluss hat.

(Vor ein zwei Jahren habe ich bereits sechs Thesen zu einer Total-Revision der Schweizer Gymnasien geschrieben, man findet sie hier.)