Ambient Awareness

In Hamburg habe ich mit Dejan und Jöran einen Podcast zur »Kultur des Teilens« aufgenommen. Im Beitrag zu »Working Out Loud« habe ich schon Ideen skizziert, wie an Schulen diese Kultur entstehen oder gefördert werden kann. Wenn Menschen Dinge teilen, dann entsteht oft eine Art kognitive Überforderung: Ich kann gar nicht alles bewusst wahrnehmen, was sie mitteilen. Ein Beispiel sind Social-Media-Feeds: Dort steht mehr, als ich in einem Tag lesen kann, besonders weil Plattformen zunehmen auf Infinite-Scroll-Methoden setzen, also praktisch unendlich viel Content anbieten. Deshalb scrolle ich durch. Ähnlich ist es auch auf Barcamps: Wer teilnimmt, kann eine Session vorschlagen. In kurzer Zeit hört man sich dann viele Session-Themen an, nimmt aber vielleicht nur an zwei oder drei aktiv Teil.

Nun könnte man denken, dass so eine massive Ablenkung passiert, dass wir mit Informationen überflutet werden, die wir gar nicht verarbeiten können, die Konzentration erschweren. Vor über 10 Jahren hat Schirrmacher festhalten: »Mein Kopf kommt nicht mehr mit.«

Tatsächlich tritt – meist nach etwas Gewöhnung und Übung – aber ein positiver Effekt ein: Es stellt sich eine unbewusste Wahrnehmung dessen ein, was nur an mir vorbeigezogen ist. Meine Aufmerksamkeit erhält ein zusätzliches Potential: Ich habe einen Gedanken nicht bewusst durchgespielt oder eine Verbindung nicht tatsächlich hergestellt, eine Information nicht abrufbar abgespeichert – aber komme ich in eine Situation, in der dieses Argument, diese Verbindung oder diese Information wichtig sein könnten, fällt mir ein, dass da mal was war. Das kann teilweise mühsam sein, wenn wir nach etwas suchen, was wir nur noch erahnen – oft passiert da aber etwas, was wir nicht genau beschreiben können, weil uns einfach im richtigen Moment das einfällt, was uns einfallen sollte.

Das ist »Ambient Awareness«. Der Begriff geht zurück auf die japanische Soziologin Mizuko Ito. Sie hat damit beschrieben, dass Menschen auf Social-Media-Profilen Stimmungen wahrnehmen können, auch wenn diese gar nicht explizit geäußert worden sind. »Ambient Awareness« lässt sich aber leicht auf Kontexte ausdehnen, in denen Dinge geteilt werden, die nicht bewusst wahrgenommen werden. Sie schafft das Potential einer bewussten Verarbeitung – und ist so ein weiteres Puzzle-Stück eine neuen Form von Konzentration.

water ripple
Bildbeschreibung: Wassertropfen. Quelle: Unsplash/Linus Nylund.

3 Kommentare

  1. Roman sagt:

    Spannendes Konzept. Es ist zwar keine Schirrmacher-sche Überforderung, aber mich stresst das, wenn ich mich nur vage an Social-Media-Posts oder verlinkte Artikel erinnere und die dann nicht mehr finde. Das führt dazu, dass ich alles mögliche festhalten will, damit ich später auch wieder darauf zurückgreifen kann – ist ja heute mit Notiz-Tools wie Evernote auch relativ einfach.

    Die Herausforderung ist, nur das festzuhalten, das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit später wirklich relevant wird, und nicht dem digitalen Hoarder-Syndrom zu verfallen.

  2. Remo sagt:

    „Ambient Awareness“, ist das richtig übersetzt mit „Umgebungsbewußtsein“?

    Übrigens kann man sowas auch bei Konzerten oder Politiker-Reden und so weiter beobachten. Daß ein Umgebungsbewußtsein entsteht. Man muß nur einmal eine Blocher-Rede (zum Beispiel) oder ein Konzert irgendeiner Bänd besuchen.

    Soziologen versuchen ja seit Jahrzehnten oder länger herauszubekommen, wie so ein Umgebungsbewußtsein entsteht.

    Es gibt es also nicht nur im digitalen Raum.
    Sondern auch im realen Leben.

    Wobei natürlich bei einem Konzert oder einer Politikerrede weitaus mehr Faktoren Einfluß nehmen können von denen wir noch nicht einmal etwas ahnen. Wieweit Pheromone und andere Dinge dabei eine Rolle spielen ist noch nicht einmal ansatzweise erforscht.

    Zum Beispiel auch, wie entsteht eine Massenpanik? Wie kommt es, daß die Panik sich blitzartig schnell auf andere Leute in einer Masse überträgt.

    Interessant ist es zu beobachten, wieweit es sowas auch im sozialen Raum des Internets gibt, weil ja dort nur der Bildschirm zur Verfügung steht, um Gefühle oder ein Umgebungsbewußtsein zu schaffen.

    Etwa bei Haß im Internet (sogenannte „hate speech“ heißt es glaube ich?) oder auch bei positiven Bewußtseinsumgebungen wie zum Beispiel Zuneigung zu einer Person oder einem Projekt (Umweltschutz?) etc.

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