Müssen Jugendliche besser lesen lernen? – Eine kritische Bemerkung zu einer populären Forderung

Fasst man die Ergebnisse der PISA-Studie 2022 im Bereich Lesen zusammen, genügen für die Schweiz zwei Zahlen:

  • ein Viertel der 15-Jährigen in der Schweiz kann die zentralen Aussagen in einem einfachen Text nicht erkennen
  • knapp 10% können anspruchsvolle Texte lesend erschließen.

Diese Ergebnisse sehen visualisiert so aus (S. 25 im Bericht):

Im Folgenden soll es aber um die Reaktionen gehen. Auch wenn die Schweizer Ergebnisse im internationalen Vergleich halbwegs okay sind (die Schweizer Jugendlichen lesen leicht besser als der OECD-Schnitt und die Jugendlichen in den umliegenden Ländern) – fordern viele Menschen eine Reaktion, eine Form von Leseförderung.

Grundsätzlich kann man sagen, dass dieses Ergebnis der Logik des Schweizer Bildungssystems entspricht: Bildungsverlierer:innen erwerben im selektiven System auch basale Kompetenzen nicht (in Mathematik sind es knapp 20%, die grundlegende Anforderungen nicht erfüllen). Diese Jugendlichen sollen Berufe ausüben, in denen sie nicht lesen können müssen. Wären sie besser gebildet, würden sie sich wohl nicht mit diesen Berufen abfinden. Das ist die zynische, realpolitische Sicht.

Der Peter-Gut-Cartoon ortet das Problem bei den digitalen Medien, ein SRF-Beitrag fragt, wie Lesen »wieder cool« werden könnte (vielleicht mit TikTok), die NZZ-Redaktion befiehlt Jugendlichen zu lesen und gibt ihnen ein paar Buchtipps mit auf den Weg, Bettina Weber findet gar, politisch korrekte Sprache müsse als Wurzel des Problems gemieden werden. Diese Forderungen von belesenen Menschen gehen am Problem vorbei (viel besser machen es Comtesse und Jones in diesem Bund-Artikel). Sie sind aber aufschlussreich, weil sie deutlich machen, wie hilflos viele Menschen dem aktuellen Kulturwandel gegenüber sind.

Grundsätzlich baut die schulische Lesedidaktik sowie die allgemeine Vorstellung von Werteerziehung auf privater Lektüre auf. Wer gern und viel liest, lernt in der Schule besser lesen und kann vom stark auf Lektüre schriftlicher Texte basierenden Unterricht stärker profitieren. Gleichzeitig werden bürgerliche Werte übernommen, wenn man sich mit dem Lektürekanon auseinandersetzt. Jugendliche müssen lesen, um zu verstehen, was ein ‚guter‘ Mensch tun und denken sollte; um sich mit moralischen Fragen auseinanderzusetzen. Lesen ist gleichzeitig aber auch Me-Time, Anlass zu vertiefter Reflexion und entspannende Unterhaltung.

Nun liest aber ein relevanter Anteil von Kindern und Jugendlichen keine literarischen Texte (mehr). Für Me-Time, Unterhaltung und Reflexion nutzen sie TikTok, Instagram, Snapchat – oder Games, auf dem Handy oder an der Konsole. Da lesen sie durchaus, wenn man einen weiten Textbegriff verwendet, der sich nicht auf gedruckte Texte beschränkt. TikTok-Videos sind komplexe Geflechte von Bedeutungen, Verweisen, Anspielungen, bedeutungsvolle Musik und Mitteilungen, die sich aufeinander beziehen. Genauso bieten Games anspruchsvolle Formen von Storytelling. Nur: Die Fähigkeiten, die man braucht, um digitale Texte zu lesen (eine wissenschaftliche Einordnung dazu findet sich hier), sind nicht dieselben, die man braucht, um die Texte zu lesen, mit denen bei PISA Lesekompetenz gemessen wird.

Das bedeutet zunächst, dass bei diesen jungen Menschen die Lesezeit für herkömmliche Texte fehlt. Das hat Konsequenzen:

  1. Die Grundlage für den schulischen Leseunterricht fehlt. Dieser basiert auf der Annahme, dass Kinder und Jugendliche auch außerhalb der Schule lesen. Fällt das weg, müsste der Unterricht neu konzipiert werden (indem z.B. Lesezeit in der Schule zur Verfügung gestellt wird).
  2. Lesen schriftlicher Texte bekommt eine andere Bedeutung, es ist nicht mehr ein universeller Zugang zu Wissen, Kultur, Unterhaltung und Wertevermittlung, sondern der Zugang eines Teils der Bevölkerung, eine Nische.

Die oben zitierten Reaktionen zeigen, dass zumindest journalistischen Kommentator:innen das beides nicht akzeptieren können. Sie gehen davon aus, dass Lesen eine universelle Bedeutung habe, eine zentrale Grundlage sei, ohne die vieles nicht denkbar sei. Da sie aber (schon länger) weggebrochen ist, muss vieles ohne das Lesen von schriftlichen Texten gedacht werden. Mahnungen in Zeitungen, die junge Menschen ja ohnehin nicht lesen, bringen nichts. Sie sind eine Bestätigung für alle die Menschen, die auch nicht damit klarkommen, dass sich Kultur und Gesellschaft verändert haben, verändern und verändern werden.

Die entscheidende Frage ist, wie ein gutes Leben ohne die Lektüre schriftlicher Texte aussehen kann; wie gute Bildung gestaltet werden kann, wenn Jugendliche zuhause teilweise nicht mehr lesen; wie wir Werte verhandeln können, wenn wichtige Debatten auf audio-visuellen Plattformen stattfinden und nicht mittels gedruckter Texte geführt werden.

Vielleicht müssen also Jugendliche gar nicht mehr oder besser lesen, sondern wir müssen Wege finden, damit umzugehen, dass einige es nicht tun und trotzdem gebildete, gute Menschen sind.

6 Kommentare

  1. Anonymous sagt:

    Ich bezweifle, dass Jugendliche in den USA, Polen und Irland weniger Zeit im Internet verbringen, aber im Gegensatz zur Schweiz scheinen sie das mit dem Textverständnis trotzdem hinzubekommen – bei einem Bruchteil unserer Bildungsausgaben pro Kopf. Davon abgesehen müssen Menschen in der Lage sein, komplexe Texte zu verstehen, um überhaupt zu begreifen, worüber sie abstimmen. Dass jede 4. Person dazu nicht in der Lage ist, ist nichts, worauf unser Bildungssystem stolz sein kann. Niedrige Jugendarbeitslosigkeit hin oder her.

  2. Anonymous sagt:

    Hi Philippe, inhaltlich stimme ich dir schon zu, nur beobachte ich zunehmend in der „Generation Nichtleser“ eine stark verkürzte Aufmerksamkeitsspanne, wofür ich in erster Linie den Konsum schnellstlebiger Medien verantwortlich mache. Das ist ein Problem für meinen Unterricht, da ich es nicht schaffe, meine Impulse, Aufgaben, Erklärungen und das ganze Lern-Scaffolding in 15 Sekunden TikTok Kürze zu packen. Insofern würde ich schon sagen, dass Bücher lesen noch eine andere Kompetenz schult, die du bisher nicht erwähnt hast. Viele Grüße, Leonardo

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