Bei der Berliner TAZ schreib Christian Gehrke in den letzten Wochen zwei Mal über die Missbrauchsgefahr, die entstehen kann, wenn sich Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler auf Facebook begegnen – eine Position, die auch Christian Füller vertritt. (Vgl. auch diesen Artikel dazu.)
Im Artikel vom 17. Mai formulieren Gehrke und die von ihm zitierten ExpertInnen diese Gefahr wie folgt:
Die nötige Grenze zwischen Lehrer und Schüler droht aus ihrer Sicht zu verwischen. Zu oft seien diese Verbindungen in jüngster Vergangenheit eskaliert, woraufhin Lehrer suspendiert wurden. […]
„Sieht eine Lehrerin auffällige Fotos oder Beleidigungen ihrer Schüler, steht sie vor schwierigen Entscheidungen. Ist das privat oder nicht? Soll sie einschreiten oder nicht?“, fragt sich Heinz-Peter Meidinger, Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Ein Pädagoge sei zur Objektivität verpflichtet. Wenn er nur mit einigen Schülern „befreundet“ sei, sei er nicht mehr unabhängig, meint Meidinger. […]
Facebook fördert Täter immens – behauptet die Psychotherapeutin Julia von Weiler. Sie kämpft seit Jahren in dem Verein „Innocence in danger“ aktiv gegen Kinderpornografie und sexuellen Missbrauch im Netz. „Das ist eine große Möglichkeit, um die Verbindungen mit potenziellen Opfern zu verstärken und intim werden zu lassen, durchgängig und unausweichlich, 24 Stunden am Tag“, erklärt von Weiler. „Wenn wir über Facebook kommunizieren, sehen wir den Gesprächspartner nicht und interpretieren in seine Antworten etwas hinein. Das kann gefährlich werden, weil wir den Computer abschalten können, aber nicht unseren Kopf“, sagt die Psychotherapeutin.
Die Aussagen lassen sich zu vier Argumenten verdichten:
- Soziale Netzwerke erschweren es Lehrpersonen, innerhalb der professionellen Grenzen ihres Berufs zu agieren.
- Soziale Netzwerke schaffen Ungleichheiten zwischen Beteiligten und Unbeteiligten.
- Soziale Netzwerke werden bei Missbrauchsfällen häufig genutzt.
- Potentielle Täter werden durch soziale Netzwerke in Versuchung geführt.
Besonders das letzte Problem spricht auch eine von Gehrke später interviewte Expertin, die Psychologin Ethel Quayle an:
Und es geht zum Beispiel darum, welche Form und Inhalte digitaler Bilder nicht länger der professionellen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler angemessen sind. Daraus ergibt sich dann beispielsweise häufig die Frage, wann der Erwachsene die Grenze überschreitet und eine romantische oder explizit sexuelle Beziehungen zu SchülerInnen beginnt. […]
In der Onlinekommunikation haben strategisch agierende Täter noch größere Vorteile gegenüber Jugendlichen, die eben nicht strategisch, sondern authentisch auf der Suche sind. Daraus ergeben sich mehr Möglichkeiten für Grenzüberschreitungen. Die Grenzüberschreitungen selbst sind denen in der Offlinewelt sehr ähnlich, und die meisten von uns erkennen, wo die Risiken liegen. Nämlich da, wo ein Lehrer zum Freund wird und beginnt, persönliche oder sexuelle Inhalte zu teilen. Hier lauert die Gefahr – dass LehrerInnen ihre Überlegenheit als einflussreiche Erwachsene über einen minderjährigen Schüler ausnutzen können.
Quayle spricht auch ein Argument an, das man generell für die Gegenposition vorbringen könnte. Gehrke hat im ersten Artikel einen Chemielehrer mit den Worten zitiert:
Idioten unter Lehrern, die mit ihren Schülern etwas anfangen wollen, würde es auch ohne Facebook geben. Die suchen auch so ihre Möglichkeiten.
Man könnte zum Schluss kommen, dass Facebook und die »reale Welt« nicht gesondert, sondern identisch seien: Missbrauch ist juristisch festgelegt und findet unter gewissen Bedingungen statt, die sich nicht dadurch verändern, wie kommuniziert wird.
Welche Sicht ist die richtige? Für sichere Aussagen fehlen meiner Meinung nach empirische Untersuchungen. Mutmassungen helfen nicht weiter. In meinen Empfehlungen habe ich festgehalten, dass ich Facebook und Twitter dann sinnvoll und unproblematisch finde, wenn die Kommunikation zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen/Schülern öffentlich einsehbar ist. Also: Eltern, Mitschülerinnen und Mitschüler und andere Lehrpersonen können mitlesen. Dies würde ich auch Schulen als Richtlinie empfehlen, andere, »private« Freundschaften zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen/Schülern würde ich nicht empfehlen. Eine scharfe Abgrenzung scheint mir schwierig: Lehrpersonen können Schülerinnen und Schüler auch privat kennen, bevor sie ein professionelles Verhältnis aufgenommen haben; gerade die vertrauensvolle Beratung in Krisensituation kann es erforderlich machen, dass schnell und nicht-öffentlich kommuniziert werden kann – etwas, was ja auch per Telefon oder SMS möglich ist.
Ganz grundsätzlich muss man über Facebook an Schulen reden und besprechen, wie man damit umgeht. Die Gefahr, dass pädophil veranlagte Lehrpersonen sich Opfer unter ihren Schülerinnen und Schülern suchen, kann man nicht durch Reglemente oder Verbote bannen. Lehrpersonen haben das Recht, privat soziale Medien zu nutzen – und Schülerinnen und Schüler ebenfalls. Wer meint, diese Profile ließen sich unsichtbar machen, kennt sich nicht aus. Wir hinterlassen Spuren im Netz und bieten Kontaktmöglichkeiten – das ist gerade die Idee von Kommunikation. Dass diese Kontaktmöglichkeiten missbraucht werden können, ist eine Tatsache – ihr kann man nur mit einem offenen Klima und zielgerichteter Prävention begegnen. Auch die Einrichtung von speziellen Lehrerprofilen auf Facebook ist keine Lösung für dieses Problem – weil auch sie die Möglichkeit bieten, privat Nachrichten und andere Medieninhalte auszutauschen.