Silke Müller ist Schulleiterin in Niedersachsen und »Digitalbotschafterin« des Landes. In diesen Tagen erscheint ihr Buch mit dem Titel »Wir verlieren unsere Kinder! – Gewalt, Missbrauch, Rassismus. Der verstörende Alltag in Klassenchats«. Das Buch ist ein sinnvoller Anlass um darüber zu sprechen, weshalb gute Medienpädagogik keine Angst machen sollte – und weshalb sie es immer wieder tut.

2014 habe ich hier zusammengefasst, welche Probleme in vielen Klassenchats entstehen. Dabei habe ich darauf hingewiesen, dass Schüler*innen die Chats oft auch als Belastung wahrnehmen, dass Eltern und Lehrpersonen die Verantwortung leider oft von sich weisen. Ich würde nie behaupten, Klassenchats seien unproblematisch. Was ich aber auch nie behaupten würden: Dass »wir« »unsere« Kinder verlieren. Und dass die Klassenchats voll von Gewalt, Missbrauch und Rassismus seien.
Warum nicht? Kinder lernen in Klassenchats digitale Kommunikation. Sie machen Fehler, sie überschreiten Grenzen. Sie brauchen Begleitung und Nachsicht, Strenge und Verständnis. Entstehen Klassenchats in der vierten oder fünften Klasse, dann können wir nicht erwarten, dass die Kinder mit 10 oder 11 Jahren ein komplexes digitales Medium mit hoher sozialer Sprengkraft moderieren können. Die meisten Erwachsenen können es auch nicht.
Was wir erwarten können, sind drei Dinge:
- Dass Lehrpersonen auch am Beispiel von Klassenchats medienpädagogische Kompetenzen entwickeln lassen.
- Dass Eltern die Nutzung der Klassenchats begleiten.
- Dass Kinder ein Problembewusstsein entwickeln und miteinander und mit Erwachsenen über Klassenchats sprechen.
All das steht sicher auch im Buch von Silke Müller. Verpackt ist es aber in ganz viel Warnung und ganz viel Drohung. Müller und ihr Verlag machen Angst vor dem, was in Klassenchats passiert und was das für Auswirkungen auf Kinder hat. Diese Angst schadet. Was sie bewirkt ist:
- Lehrpersonen verbieten Klassenchats und ziehen sich damit aus der Verantwortung.
- Eltern haben Angst vor Klassenchats und verbieten sie ebenfalls, was dazu führt, dass Kinder heimlich (oder unbegleitet) daran teilnehmen.
- Kinder trauen sich nicht mehr, Erwachsene auf Probleme in Klassenchats anzusprechen, weil diese sie ja schon längst davor gewarnt haben.
Damit zeigt sich: Eine warnende oder drohende Medienpädagogik, die Angst macht, bewirkt das Gegenteil von dem, was sie bewirken sollte. Unabhängig davon, ob irgendwann die richtigen Botschaften vorkommen – entscheidend ist die Verpackung. Das Buch von Müller kaufen Menschen, die genau das hören wollen: Digitale Medien sind gefährlich, Klassenchats ein größeres Problem als viele denken. Dabei ist es egal, ob Müller das sagen will oder nicht.
Im Vorwort zum Buch steht:
Gleichzeitig aber kämpfe ich für Anstand, Moral und Mitmenschlichkeit, die uns zu einem bestimmten Zeitpunkt in diesen Entwicklungsprozessen verloren gegangen zu sein scheinen. Vielleicht sind wir irgendwann falsch abgebogen.
Müller: Wir verlieren unsere Kinder!, S. 11
Diese Tugenden sind nie verloren gegangen. Niemand ist »irgendwann falsch abgebogen«, schon gar nicht wir. Wir haben es mit Kindern zu tun, die einerseits strukturelle Gewalt reproduzieren, die sie in Schule und Elternhaus erleben – und die andererseits Grenzen überschreiten, um sie kennenzulernen. Das tun sie nicht nur in Klassenchats, das tun sie auch auf dem Pausenplatz, im Handballverein, auf Geburtstagspartys und in Chats in Videogames.
Das macht Gewaltdarstellungen, Mobbing oder Rassismus nicht okay. Vielmehr stellt es uns vor die Herausforderung, was wir wirksam dagegen tun können. Und darauf gibt es nur eine Antwort: Wir müssen in Schulen und zuhause Kulturen etablieren, in denen es keine Gewalt und keinen Rassismus gibt, in denen die Rechte aller Anwesenden respektiert werden. Klassenchats sind schon dort problematisch, wo Anspielungen und scheinbar humorvolle Beleidigungen vorkommen, die An- oder Abwesende verletzen. Die Orientierung an krassen Fällen zeigt Jugendlichen, dass Erwachsene sich nicht um ihre Erfahrung und ihre mediale Realität kümmern, sondern sich vorschnell ein falsches Bild davon machen. Sie lässt sich mit einer Verkehrserziehung vergleichen, die vorgibt, auf jeder Straße gäbe es täglich mehrere tödliche Unfälle, obwohl das offensichtlich nicht der Fall ist.
Glaubwürdige Werteerziehung gelingt nur, wenn wir sie in eine Kultur etablieren, die erstens von allen gelebt wird und zweitens die Perspektive aller berücksichtigt. Kinder können an Alltagssituationen lernen, dass sie Menschen fragen müssen, ob sie ihre Bilder veröffentlichen dürfen. Verstehen sie das aus der eigenen und aus der fremden Perspektive, dann braucht es keine großen Warnungen über Kinderpornografie – weil dann alle verstehen, dass es nicht okay ist, Aufnahmen anderer Personen ungefragt zu verschicken.
Und das führt mich abschließend zum letzten Punkt: Viele Kinder und Jugendliche wissen sehr genau, dass sie keine Gewaltvideos oder pornografisches Material verschicken dürfen; dass es nicht klug ist, das eigene Passwort zu teilen oder private Dinge öffentlich zu teilen. Und sie tun es trotzdem. Da muss Medienpädagogik einsetzen: Beim Verständnis, weshalb junge Menschen Dinge tun, von denen sie wissen, dass sie verboten oder nicht klug sind. Wer diese Fragen nicht beantworten kann, kann nicht darauf verweisen, wir seien »irgendwo falsch abgebogen«, sondern sollte sich mit der Psychologie junger Menschen auseinandersetzen.

















