Das Problem an »Bauchgefühl«-Medienpädagogik

Die Diskussionen um die Mediennutzung von Jugendlichen sind emotional und moralisch aufgeladen. Erwachsene merken, dass Jugendliche viel Zeit mit digitalen Medien verbringen. Daran knüpfen sie Befürchtungen, die durch weitere Beobachtungen schnell genährt werden, weil der Confirmation Bias spielt: Wir nehmen die Welt selektiv wahr, um unsere Annahmen zu stützen. Wer also denkt, TikTok konfrontiere Jugendliche mit krassen Gewaltdarstellungen, wird alle Fälle, bei denen sowas beschrieben wird, als Bestätigung lesen, umgekehrt aber kaum wahrnehmen, wie viele Jugendliche TikTok gewaltfrei erleben.

»Bauchgefühl«-Medienpädagogik bedeutet also, dass Pädagog*innen Mediennutzung mit vorgefertigten Haltungen betrachten und diese Haltungen nicht durch Daten oder Erfahrungen korrigieren, wenn das angezeigt wäre. Oft schlagen sie aus diesem Grund untaugliche Maßnahmen vor und versuchen auch mit problematischen Mitteln, Jugendliche und andere Pädagog*innen von ihren Haltungen zu überzeugen.

»Bauchgefühl«-Medienpädagogik ist mit einer Reihe von Problemen verbunden:

  • Pauschalisierung
    Aus bestimmten, oft drastischen Fällen wird abgeleitet, dass alle Kinder und Jugendlichen ähnlichen Situationen gegenüberstehen. Das stimmt oft nicht.
    Was passiert, ist der »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«-Effekt: Die drastischen Fälle machen die medienpädagogischen Bemühungen unglaubwürdig, wie die Darstellungen der Drogenszene in Westberlin die Präventionsarbeit in den 80er-Jahren unterlaufen hat. Im schlimmsten Fall erzeugen die Pauschalisierungen eine Faszination für etwas, was die jungen Menschen vorher noch gar nicht kannten.
  • Verbote
    Aus einer einseitigen Sicht auf Probleme werden oft Verbote als Maßnahme abgeleitet. Diese erstrecken sich dann z.B. auf schulische Kontexte oder auf bestimmte Familien. Die Wirkung der Verbote ist nicht nachhaltig: Kinder und Jugendliche umgehen sie entweder oder leiden darunter, dass ihnen pauschal auch Dinge untersagt werden, die gar nicht problematisch sind (also z.B. die witzigen Comedy-Videos auf TikTok auch nicht mehr zugänglich sind, weil sie die App löschen mussten).
  • Adultismus
    Hinter Bauchgefühl-Medienpädagogik steckt ein adultistisches Verständnis des Umgangs mit Medien. Erwachsene stülpen Jugendlichen ihre eigenen Werte und Wahrnehmungen über, entscheiden für sie und manipulieren sie so, dass sie das sagen, was Erwachsene hören wollen.
  • anekdotische und biografische Evidenz
    »Bauchgefühl«-Medienpädagogik entsteht oft aus singulären Eindrücken, die in Bezug auf die eigene Medienbiografie von Erwachsenen gesetzt werden. Ein Kind erhält ein Porno-Video zugeschickt – »ich habe den ersten Porno-Film erst gesehen, als ich schon erwachsen war«.
    Dieser Mechanismus verhindert eine differenzierte Betrachtung, weil die Anekdoten und die eigene Wahrnehmung von medialen Vorgängen absolute Priorität erhält.
  • Kulturpessimismus
    Das Bauchgefühl führt oft dazu, den Eindruck zu erhalten, ein Problem sei heute so ausgeprägt wie noch nie in der Vergangenheit. In Bezug auf Kultur stimmt das praktisch nie. Oft entstehen Kompetenzen und gemeinschaftliche Praktiken, wenn Phänomene häufiger auftauchen; Menschen entwickeln Filter und Bewältigungsstrategien. Sie werden bei Belastungen im einen Bereich in anderen Bereichen entlastet.

Wie lässt sich ein besserer Zugang zu Medienpädagogik finden? Das ist eigentlich recht einfach und erfordert vier Formate bzw. Reflexionsanlässe:

  1. Mit diversen Gruppen von Kindern und Jugendlichen offen sprechen.
    Offene Gesprächsanlässe und neutrale Fragen helfen, verschiedene Perspektiven zu vergleichen.
    a) »Erzählt mal alle von etwas, was euch letzte Woche online aufgefallen ist.«
    b) »A hat kürzlich das erlebt. Wie würdet ihr in so einer Situation reagieren?« 
    c) »Was würde euch im Umgang mit X helfen? Was sollte die Schule machen, damit euch das leichter fällt?« 
  2. Massnahmen mit Betroffenen evaluieren.
    Wenn bestimmte Regeln oder Verbote eingeführt werden, sollten die periodisch mit den Betroffenen reflektiert werden. So wird ihnen erstens klar, weshalb diese Regeln gelten – und die Wirkung der Regeln wird zweitens mit dem realen Erleben abgeglichen.
  3. Daten erheben oder studieren.
    Zu vielen medienpädagogischen Fragen gibt es Ergebnisse von Umfragen. Sie können helfen, Phänomene im korrekten und allgemeinen Kontext zu sehen.
  4. Unfälle, Extremfälle und eigenes Erleben reflektieren.
    Krasse Situationen und Schicksale (Bahnhof Zoo) faszinieren Menschen. Sie sind aber Ausnahmen, extreme Pole. Genauso ist unsere eigene Vergangenheit eine Möglichkeit, wie ein Leben verlaufen kann – es gibt viele andere. Sich das immer wieder bewusst zu machen hilft dabei, die Welt nicht so zu sehen, als bestünde sie nur aus extremen Problemen und als müsste sie eigentlich so sein, wie wir unsere Vergangenheit erlebt haben.
Unsplash, Rodion Kutsaiev

Kommentar verfassen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..