Auch Felix Stalder unterliegt mit seinem neuen Buch (Leseprobe) dem Paradox der digitalen Kultur: Er beschreibt eine »Präsenz der Digitalität«, von der sogar eine »Dominanz« ausgehe (S. 20), tut dies aber im herkömmlichen Medium der nicht-digitalen Theorie: In einem Suhrkamp-Band. Nur: Selbstverständlich ist dieser Band wenig mehr als eine Systematisierung der Gedankengänge, die Stalder in seinem Blog entwickelt hat; das Buch wäre dann eine Anbindung der digitalen Kultur an etablierte Prozesse der Verteilung von Reputation. Dadurch erfolgt eine Verengung, die besonders an den drei zentralen Formen digitaler Kultur sichtbar werden, die Stalder beschreibt: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität kann das Buch zwar darstellen, nicht aber performativ einlösen. Dazu später mehr.
Stalder geht vom Gedanken des »Post-Digitalen« aus, der betont, dass ästhetische Verfahren und Praktiken des Digitalen die Dichotomie von »alten« vs.»neuen« Medien längst aufgelöst haben und genau so in nicht-digitalen Kulturbereichen zur Anwendung kommen. Stadler fasst Kultur umfassend, er bezeichnet damit den Raum, in dem soziale Bedeutung verhandelt wird – in Handlungsweisen, Institutionen, Artefakten. (S. 16) Als Ausgangspunkt zitiert Stalder Shirky:
Kommunikationsmittel werden erst dann sozial interessant, wenn sie technisch langweilig werden.
Das Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten geht Stalder den diskursiven und sozio-ökonomischen Entwicklungen nach, welche digitale Kultur ermöglicht haben. Die Auflösung von Heteronormativität spielt dabei ebenso eine Rolle wie die wachsende Bedeutung der Wissensökonomie, die Netzwerkstruktur ist so wichtig wie die soziale Dimension von Design-Prozessen. Das zweite Kapitel entwickelt dann die oben erwähnten Formen digitaler Kultur: Referentialität meint einen freien Umgang mit transparent markierten Quellen im Montage-Verfahren. Stalder diskutiert aber auch damit verbundene Prozesse der Kuratierung und Aufmerksamkeitsökonomie, Verfahren der dekonstruktivistischen Lektüre kanonischer Texte sowie die Bedeutung der Körperlichkeit bei Reenactments und Cosplay. Gemeinschaftlichkeit bezieht sich auf communities of practice, die Stalder als Subjekte der Kultur der Digitalität sieht (S. 151). Er meint damit einen offenen Austausch von Wissen und Fertigkeiten in einem spezifischen Praxisfeld; verbunden mit Verteilung von Ressourcen, Entwicklungen von Normen und Interpretationen der eigenen Praxis. Stalder problematisiert diese Verständnis von Gemeinschaft, indem er Macht, Freiwilligkeit, Authentizität, Subjektivität, Homogenität und Diskriminierung in einem breiten theoretischen Horizont diskutiert.
Angesichts der von Menschen und Maschinen generierten riesigen Datenmengen wären wir ohne Algorithmen blind. (S. 13)
Algorithmizität als dritte Form beschreibt Stalder anhand der Funktionsweise konkreter Angebote und Funktionsweisen digitaler Werkzeuge. Auch dabei spielt Macht eine große Rolle, wenn etwas darauf hingewiesen wird, dass es im Interesse von Informationsproduzenten ist, bei Suchmaschinen indiziert zu sein, weshalb sie sich ihrer Macht scheinbar freiwillig unterwerfen (S. 195). Diese Macht basiert auf behavoristischen Modellen, die den Menschen auf messbare Reiz-Reaktions-Muster reduziert. Stalders Fazit:
In der dynamischen Welt der Unübersichtlichkeit sind Nutzer geleitet von einem radikalen, kurzfristigen Pragmatismus. Sie lassen sich die Welt gern vorsortieren, um besser in ihr handeln zu können. Ein angemessenes Urteil, ob die gelieferten Informationen die Welt richtig oder falsch interpretieren, können sie sich ohnehin nicht bilden […] (S. 202)
In der Analyse der Dimensionen der Kultur der Digitalität ist die politische Kritik unübersehbar. Sie äußert sich im abschließenden Kapitel ganz dezidiert. Stalder greift dort als Leitbegriffe die Postdemokratie sowie die Commons heraus. Sie bezeichnen Gegenbewegungen der Digitalisierung: Die Entwicklung einer autoritären Gesellschaft sowie die Ausarbeitung von Sphären, in denen radikale Partizipation möglich sind. Postdemokratie bezeichnet eine kulturelle Vielfalt jenseits eines Einflusses von Menschen auf politische oder ökonomische Entscheide, während Commons den Aufbau von Institutionen weitgehend außerhalb von Markt und Staat bezeichnen. Stalder löst diesen Gegensatz so auf, dass die von der Postdemokratie behauptete Alternativlosigkeit gerade durch Commons als eine Form der Manipulation entlarvt wird: Commons belegten gerade, dass es »echte, fundamentale Alternativen auf der Höhe der Zeit gibt«. (S. 281).
Wir sich mit der Kultur der Digitalität fundiert befassen will, sollte Stalders Zugänge und Perspektive kennen. Seine Stimme ist deshalb wichtig, weil er sorgfältig begriffliche Fallen auslotet und nach präzisen Bestimmungen dessen sucht, was er untersucht. Gleichzeitig sträubt er sich gegen unproduktive Dichotomien: Er spielt nicht Fortschrittliches gegen Traditionelles aus, Digitales gegen Analoges oder Befürchtungen gegen Lösungen. Vielmehr bettet er digitale Praktiken in theoretisch, sozial und historisch breit ein, so dass sich ihre Bedeutung bestimmen lässt. Für mich war insbesondere auch der Bezug zu ästhetischen Verfahren eine wertvolle Ergänzung zu meiner sonstigen Lektüreerfahrung.
Die 280 Seiten lesen sich nicht in einem Nachmittag am Strand. Auch wenn es wünschenswert wäre, einzelne Aspekte etwas knackiger präsentiert zu bekommen, so lohnen sich mehrere intenisve Lektüresitzungen.
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