Was verändert sich beim Lesen mit digitalen Geräten?

Die Frage, wie sich der Leseprozess durch die digitale Rezeption von Texten verändert, wurde in diesem Blog schon mehrmals in Artikeln diskutiert. 2015 habe ich einige Resultate aus empirischen Studien diskutiert, 2014 die Veränderungen etwas breiter beschrieben und 2012 Tendenzen beschrieben, welche die Möglichkeiten der Vernetzung von Leserinnen und Lesern erzeugen.

Für eine zweitägige Weiterbildungsveranstaltung habe ich die Veränderung des Lesens noch einmal aufgearbeitet. Die Slides gibt es hier, eine Zusammenfassung der für mich wichtigsten Aspekte in den folgenden Abschnitten.

Das Unbehagen der digitalen Lektüre

Viele Menschen lesen lieber Texte auf Papier. Diese im Alltag und in Studien gut dokumentierte Einsicht wird interessant, wenn sie begründet werden soll. Die Präferenz wird häufig als einfache Vorliebe oder Gewöhnung beschrieben, geht aber wohl auf andere Ursachen zurück, die für die Lesenden aber reflexiv nicht direkt zugänglich sind.

Axel Krommer hat von der Ent-Dimensionierung des Lesens gesprochen. Damit meint er, dass digitale Verfahren der Textpräsentation flacher werden – Tools, die dazu geeignet sind, längeren Text auf einer Smartwatch oder anderen kleinen Bildschirmen verfügbar zu machen, zeigen jeweils nur einzelne Wörter an, lösen also nicht nur die Dicke gestapelter Seiten, sondern die Seite selbst auf.

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Dieser Verlust an Dimensionen geht mit einem Verlust an zeitlicher und räumlicher Orientierung in einem narrativen Text einher, wie eine Untersuchung von Anne Mangen (2017) zeigt. Das gilt unabhängig davon, ob ein reguläres Tablet oder ein spezieller E-Reader verwendet wird.

Nicht-lineares Lesen

Ein weiterer Grund könnte darin liegen, dass digitale Lektüre oft sprunghaft ist. Wer auf digitalen Endgeräten liest, durchsucht oder überfliegt Texte oft, liest nur Teile davon oder springt vom einen Text zum anderen. Das zeigen schon frühe Studien wie die Befragung, die Liu 2005 durchgeführt hat:

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Sie zeigt (auf einer hier nicht abgebildeten Tabelle), dass die Menschen generell mehr Zeit mit Lesen verbringen als vor dem Einsatz digitaler Geräte, aber weniger fokussiert lesen.

Das hat auch damit zu tun, dass nicht-lineares Lesen stärker kontextbezogen ist. Garland bezieht sich in seiner Analyse auf unterschiedliche kognitive Prozesse beim Speichern von Wissen: Dieses kann direkt als Wissensprozess gespeichert und abgerufen werden – oder als Erinnerungsprozess. Im zweiten Fall wird das Wissen mit Kontexten verbunden – wird es abgerufen, erinnern sich Menschen noch an anderen, damit verbundene Dinge. Nicht-lineares Lesen speichert Wissen nun wie Erinnerungen ab, während lineares Lesen zum direkten Speichern von Wissen führen kann.

Was Daston im unten stehenden Zitat – es stammt aus diesem Interview – feststellt, ist also halb zutreffend. Junge Menschen, die sich an digitale Lektüre gewöhnt haben, lesen tatsächlich anders. Sie lesen aber nicht weniger kontextualisierend, sondern eher stärker – aber verbunden auf andere, textexterne Kontexte.

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Metakognition

Alle Studien zu lernbezogener Lektüre in der Schule oder im Studium zeigen, dass gedruckte Texte zu besseren Leistungen führen als digital rezipierte. Ackerman und Lauterman haben aber gezeigt, dass das unter gewissen Bedingungen stärker der Fall ist als unter anderen. Ein Fazit aus ihrer Studie ist, dass Metakognition ganz entscheidend ist für die Wirkung der Lektüre. Diese wird vor einem Bildschirm oft zurückgefahren. Lesende müssten sich also bewusst fragen, wozu sie lesen, was sie damit erreichen möchten; sich zwingen, Passagen mehrfach zu lesen, Notizen anzulegen, Medienwechsel vorzunehmen. Digitale Werkzeuge sind in dieser Hinsicht zu immersiv: Sie erlauben es der Leserin nicht, in eine Distanz zum eigenen Lesen und zum Text zu treten.

Deep Reading

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Dieses Zitat aus einem im Kontext sehr lesenswerten Artikel aus dem New Yorker erklärt sehr gut, was Deep Reading ist: Ein Prozess, bei dem beim Lesen eigenes Denken entsteht. Er setzt eher bei belletristischen Texten denn bei Sachtexten ein und führt zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst, zu Kreativität und zu vertieftem Verstehen.

Die Fragen, die Wolf stellt, deuten an, dass wir zwar davon ausgehen können, dass digitale Umgebungen Deep Reading erschweren, aber das nicht genau nachweisen können. Möglicherweise bietet die digitale Lektüre spezifisch digitaler Texte (Webserien, Social-Media-Feeds, Computerspiele etc.) eine neue Form der Vertiefung an, die Deep Reading gedruckter Romane ersetzen wird. Eine amerikanische Autorin hat kürzlich beschrieben, wie sie ihre Trennung von ihrem Ehemann dadurch verarbeitet hat, dass sie Youtube-Filme geschaut hat – ein mögliches Beispiel für diese Vermutung.

Fazit

Lesen auf digitalen Geräten ist verbreitet und wird kaum verschwinden. Zwar gibt es souveräne Lesepraktiken in diesen Kontexten – aber vielen Menschen fällt es nicht nur schwer, digital zu lesen: Sie mögen es auch nicht, lernen dabei weniger und können sich weniger gut vertiefen.

Das stellt eine Herausforderung dar, besonders für Bildungskontexte. Junge Menschen dort aufzufordern, Texte genau und mit der nötigen Metakognition zu lesen, scheint gerade heute sehr wichtig. Aber ob das auf Papier geschehen soll, weil es dort leichter geht, oder gerade nicht (weil die Lektüre im Alltag junger Menschen primär digital ist) – darüber wird man sich noch lange streiten können. Die Gefahr besteht gerade bei der Durchsicht der Forschung dabei, die spezifischen Leistungen nicht-linearer Leseprozesse zu vergessen und diese unter einer reinen Defizitperspektive abzuwerten. Die Perspektive der Herausforderung und ein forschender Umgang mit neuen Möglichkeiten scheint in diesem Zusammenhang mehr zu versprechen.

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