Martin Lindner – Die Bildung und das Netz [Rezension]

Schlechte Sachbücher hätten als Artikel erscheinen sollen, der unnötigerweise zu einem Buch aufgeblasen wurde. Bei guten Sachbüchern wünscht man sich, sie wären als mehrere Bände erschienen.

Martin Lindners »Die Bildung und das Netz« ist ein hervorragendes Sachbuch. 2014 wurde es via Crowdfunding finanziert, 2016 gab es Nachfragen, was aus dem Projekt geworden sei. Liest man es 2017, versteht man, warum seine Entstehung so viel Zeit beansprucht hat: Erstens verspricht der Titel nicht zu viel – das Buch wird dem breiten Rahmen gerecht und beschäftigt sich mit allen Aspekten der Bildung und allen Aspekten des Netzes. Dabei verliert es sich nicht in Details, sondern zeichnet die wesentlichen Ideen und Bewegungen so nach, dass die entscheidenden Umbrüche und Argumente hervortreten. Zweitens ist der Autor das, was er einen »Guerilla-Lerner« nennt. Für ihn gilt, was Marcia Loughry aus Friedmanns »The World is Flat« als Maxime ausgibt:

In der neuen, flachen Welt muss man immer versuchen, Experte auf gleich drei Feldern zu sein. Das erste Feld ist das, was jetzt gerade der Brot-und-Butter- Beruf ist. Dazu braucht man immer ein zweites Feld, das mit dem ersten zusammenhängen sollte. Das ist das, wo man als Nächstes hin will. Und dann gibt es immer noch ein drittes Feld, das von den ersten beiden möglichst entfernt sein sollte. Und dann sollte man sich noch im Klaren sein, dass diese drei Felder sich laufend ändern werden. (Die Bildung und das Netz, Kap. 34)

Solche Bücher entstehen immer auch nebenher, sie sind eines von drei Felder, welche Menschen im 21. Jahrhundert zu bestellen haben.

Bildschirmfoto 2017-11-14 um 11.01.36Wer das Buch lesen will, kann hier Interesse daran bekunden, es erscheint in den nächsten Wochen. Im Folgenden zeige ich an einigen exemplarischen Punkten, was mich am Buch begeistert.

Jedes der Kapitel im Buch ist so geschrieben, das es für sich gelesen werden kann. Lindners hat dabei großes Geschick darin, aus einzelnen Idee, Texten oder Konzepten Zusammenhänge zu entwickeln. Als Leser verstehe ich so einen Zusammenhang besser, ich lerne aber auch einen der Bezugspunkte von Lindners Arbeit genauer kennen. Das ist deshalb wertvoll, weil er enorm viel Recherche zu den Wurzeln der Netzdidaktik und der Silicon-Valley-Ideologie betrieben hat und so aktuell sich ständig wiederholende Diskussionen auf ihre Grundlagen zurückführen kann. Die verwendete Sprache ist klar, unprätentiös und leserfreundlich. Hier schreibt ein Denker, der versteht, wie Gedanken fließen.

Ein Beispiel aus dem 3. Teil, dem Kapitel 9:

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Hier leitet Lindner aus der Kernidee von David Weinberger eine Einsicht ab, die sich sofort auf Bildungs- und andere Institutionen übertragen lässt. So bringt er auf den Punkt, weshalb das Web das Album als Sammlung von Songs genau so infrage stellt wie ein Fachgeschäft, das ein festes Sortiment vorgibt. Von dieser Idee aus lässt sich jenseits von Polemik oder Kulturpessimismus darüber nachdenken, was passiert, wenn diese Prozess das Bildungssystem ergreift, etwa »Bibliotheken, Akademien, Hochschulen aller Art. Und die innere Struktur dessen, was unsere Kultur als »Wissen« begreift: Bücher, wissenschaftliche Zeitschriften, Langtexte, Kurse, Studiengänge, Disziplinen…« (Kap. 9).

Sieht man an diesem Beispiel wie Lindner es schafft, große Entwicklungen überschaubar zu machen, soll das nächste zeigen, wie im Buch verschiedene Entwicklungen gegeneinander gehalten werden: Ausgehend von den Computerspielen »Minecraft« und »Call of Duty« hat Ceglowski darauf hingewiesen, dass sich das Netz von der Idee einer einfachen Infrastruktur, in der Userinnen und User aktiv ihre Informationsumgebung gestalten, entfernt hat. Dieses Ideal wäre »Minecraft«: Nicht elegant, aber selbst gebaut. An seine Stelle treten Webseiten, die »fett« sind: Sie präsentieren sich wie »Call of Duty« als bis ins letzte Detail geplante Umgebung, entmündigen so aber die Benutzerinnen und Benutzer. Diese Einsicht überträgt Lindner nun auf die Bildung: Auf der einen Seite steht dann für ihn etwa die Idee der »Domain of One’s Own«, die Lernenden ein »Basislager« im Netz gibt. Das ist Minecraft, das ist schlank, das ist gebastelt. Auf der anderen Seite laden die fetten Lernmanagement-Systeme ein, personalisiertes Lernen als Prozess zu sehen, bei dem sich Lernende durch Aufgaben drücken, um dann so Daten abzuliefern, die ausgewertet werden und für die Erzeugung neuer Aufgaben verwendet werden.

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Lese ich diese Zusammenhänge, wie Lindner sie präsentiert, wird mir deutlich: Das ist ein entscheidender Punkt in diesem Themenfeld. Darauf müssen wir achten, hier entscheidet sich etwas. Diese Dringlichkeit und Aktualität wirkt nie aufgesetzt: Der Ton ist zurückhaltend und nüchtern, die verwendeten Bilder aber doch einprägsam.

Es gibt die Gräser, die bereits zwischen den brüchigen Platten der 1970er-Betonbauten herauswachsen, aber man muss schon genau hinsehen, um sie zu erkennen.

Dieses Zitat am Ende von Kapitel 21 greift das Bild der »Graswurzelbewegung« auf, die mit dem schlanken Minecraft-Netz korrespondiert, während die fetten Systeme, in denen personalisiertes Lernen zu einer Simulation wird, dem Beton entsprechen, mit der Bildungsinstitutionen verfestigt wurden. Der Satz schließt einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen an Schulen ab. Lindner ist hier absolut auf der Höhe der Zeit: Er erwähnt die wichtigsten didaktischen Trends wie etwa Flipped Classroom, stellt sie ausgewogen dar und in einen Bezug zu anderen Entwicklungen.

Doch das Buch versteht Bildung nicht als schulisches Lernen. Das zeigt besonders der letzte Teil, das »Handbuch für Guerilla-Lerner«. (Hier füge ich eine kritische Bemerkung ein, die in jede Rezension gehört: Der Umgang mit dem grammatischen Geschlecht bzw. gerechter Sprache scheint mir umständlich und wenig elegant gelöst – generisches Maskulinum hier, Binnen-I an anderen Stellen: Das geht nicht auf und widerspricht den eleganten Lösungen, die der Autor für andere Herausforderungen für ein zeitgemäßes Buchprojekt gefunden hat, etwa die Wikiversity-Seite, die alle Anmerkungen im Buch erschließt und Links zugänglich macht.)

Zurück zum »Handbuch für Guerilla-Lerner«:

Was brauchen heute nicht-privilegierte Menschen, die sich bilden wollen und bilden müssen? Was brauche ich, um mir all das Material anzueignen, das durch mich hindurchfließt, und es in mein Leben einzubauen? Um selbst Texte hervorzubringen, geschrieben, gesprochen oder visuell, die ich selbst brauchen und vielleicht auch mit anderen teilen kann? Um ein emanzipiertes Subjekt in der digitalen Gesellschaft zu werden, die sich gerade erst formt?

Diese Frage aus dem Epilog ist die zentrale in diesem Buch. Sie zeigt, dass Lindner nicht als teilnahmsloser Beobachter einer Analyse von Prozessen abliefert, sondern dass er auch aus der Perspektive seines eigenen Lernens und dem seiner Tochter auf das Netz blickt. »Guerilla-Lernen«, wie es Lindner beschreibt, ist von diesem Zugang her nicht ein Trend oder eine Spielerei, sondern eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Notwendigkeit:

Auch wir müssen uns auf das raue Leben in der globalisierten und digitalisierten Welt vorbereiten, in der man ständig scheitern kann, manchmal mit und meistens ohne eigene Schuld, aber für uns ist das viel schmerzhafter und gefährlicher. Viele von uns werden vom herkömmlichen Bildungssystem ebenso wie vom Sozialsystem im Stich gelassen. Und auch die vollautomatisierten, künstlich intelligenten Bildungsmaschinen der Zukunft werden uns nicht retten. Wenn wir uns durchschlagen, dann trotz, nicht wegen der vielen »Bildungsangebote« von Schule und Hochschule, Weiterbildungsfirmen und adaptiven Cloud-Plattformen. Wir sind auf uns selbst angewiesen.

Wer sich in einer Welt fester Bildungsjobs und starker Institutionen bewegt, vergisst zu oft die globale und gesellschaftliche Perspektive auf Lernen. Die Lektüre hilft dagegen. Und das Handbuch liefert bittere Einsichten, aber auch konkrete Hilfestellungen. Lindner geht auch das wieder konsequent zurück auf die Wurzeln und den Kontext von Ideen: So präsentiert etwa die 4Ks als ein Konzept, das sich bei Rheingold und Belshaw als Idee der »digital literacy« findet und beantwortet fast beiläufig die Frage, wie dieser Begriff denn auf deutsch angemessen übersetzt werden müsste (»digitale Literanz«). Gleichwohl ist das Handbuch konkret, versammelt brauchbare Tipps, um sich im Netz als Person durchzuschlagen, die nicht in Systemen und Institutionen aufgehoben ist, sondern die Sinn, Berufung und Einkommen mit dem Netz finden muss.

Fazit: Wer über Lernen im 21. Jahrhundert nachdenkt und beim Thema Digitalisierung mitreden will, sollte das Buch lesen. Nicht in einem Zug, sondern immer wieder. Ein Inhaltsverzeichnis findet sich hier. Wie gesagt: Irgendwo anfangen. Jedes Kapitel macht Lust auf mehr.

8 Kommentare

  1. Ist das Buch immer noch so aktuell, dass es sich wirklich lohnt die 600 Seiten durch zu arbeiten?

  2. Hat dies auf TALKING TEACHING rebloggt und kommentierte:
    Offensichtlich eine Leseempfehlung wert …

  3. U. Holzapfel sagt:

    Hat dies auf jetzt bloggt auch noch die Straubinger vhs rebloggt und kommentierte:
    Ein interessanter Blick auf das zukünftige Lernen im „digitalen Klimawandel“ – der Autor Martin Lindner ist inzwischen Kollege an der vhs Lingen…

  4. sonyasa sagt:

    Die Wikiversity – Seite ist wirklich ein tolle, dankenswerte und zeitgemässe Idee, die den Horizont auf erweiterte Buchwelten öffnet 🙂

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