Rezension: Danah Boyd – It’s Complicated

9780300166316Danah Boyd forscht seit Jahren über den Umgang Jugendlicher mit Social Media. Sie hat in verschiedenen akademischen Forschungsprojekten gearbeitet und seit 2009 als Social-Media-Forscherin für Microsoft tätig.  (Sie schreibt ihren Namen aus verschiedenen Gründen ohne Großbuchstaben – eine Praxis, die ich hier nicht übernehme.) 

In Ihrem kürzlich erschienen Buch »It’s Complicated« fasst sie Forschungsergebnisse zusammen, die sie in jahrelangen Gesprächen mit Jugendlichen und Eltern ermittelt hat. Der Titel bezieht sich einerseits darauf, dass das Leben Jugendlicher und ihre Mediennutzung komplex ist, andererseits auf die Praxis Jugendlicher, ihren Beziehungsstatus mit »It’s Complicated« zu bezeichnen, unabhängig davon, ob sie Single oder in einer Beziehung sind. Damit zeigt Boyd, dass das Design und die Programmierung von Social Media bestimmte Affordances schaffen: Sie erleichtern bestimmte kommunikative Handlungen, schaffen Anreize und erschweren oder verunmöglichen andere. Ein dickes Glas – ein Beispiel von Boyd (Kindle Pos. 235) – erlaubt Menschen, sich zu sehen, ohne einander zu hören. Das bedeutet aber nicht, dass sie deswegen nicht miteinander kommunizieren könnten: Vielleicht schreiben sie Nachrichten auf Blätter oder nutzen Pantomime. Das Beispiel mit dem Beziehungsstatus zeigt, dass die Affordances auch zu nicht vorgesehenen und dementsprechend unerwarteten Nutzungsweisen führen. Enge Vorgaben bei der Erstellung von Profilen (Zwang zum Klarnamen und beschränkte Auswahlmöglichkeiten bei der Wahl des Geschlechts, des Wohnorts und des Alters) führen oft dazu, dass Menschen erfundene Angaben vornehmen; obwohl oder gerade weil es sehr einfache wäre, eine bestimmte Identität abzubilden.

Die Affordances von Social Media umfassen vier Aspekte, die von herausragender Bedeutung sind (vgl. Kindle Pos. 235), weil sie die Kommunikation verändern und verschobene Anreize schaffen:

  1. Dauerhaftigkeit und Archivierbarkeit von Inhalten.
  2. Sichtbarkeit für ein bestimmtes Publikum oder für die Öffentlichkeit.
  3. Möglichkeit, Inhalte zu teilen und verbreiten.
  4. Auffindbarkeit mittels Suchmechanismen. 

Boyd geht davon aus, dass Jugendliche diese Möglichkeiten nutzen, um ihr Sozialleben zu strukturieren. Ihr Buch ist erhellend, weil sie in der Schilderung von Gesprächen mit Jugendlichen ihre Bedürfnisse und Wünsche nachzeichnet und ihre Mediennutzung darin einbettet. Nur aus der Perspektive von Jugendlichen werden ihre Verhaltensweisen verständlich. Boyd zeigt beispielsweise eindrücklich, wie unterschiedlich das Publikum der Facebook-Profile von Jugendlichen sind: Während die einen sie nur für die informelle Verbindung mit Kolleginnen und Kollegen verwenden, stehen andere unter Beobachtung ihrer Eltern, von Schulen oder auch von Gangs, für die symbolische Handlungen große Bedeutung haben können. Das führt Jugendliche zu Dilemmata, die sie mit Social Media zu lösen versuchen, aber damit nicht immer ans Ziel kommen. 

Boyds Buch geht von der Vorstellung aus, dass Social Media für Jugendliche einen Raum eröffnen, indem sie an einer Gemeinschaft teilnehmen können:

Öffentlichkeiten (engl. publics, Ph.W.) schaffen Räume und eine Gemeinschaften, in denen sich Menschen versammeln, verbinden und die Gesellschaft, wie wir sie verstehen, bilden können. Vernetze Öffentlichkeiten gehören in zwei Hinsichten dazu: Sie bilden Räume und eine imaginäre Gemeinschaft. Sie werden durch Social Media und andere neue Technologien ermöglicht. Als Räume erlauben sie Menschen, sich zu treffen, Zeit zu verbringen und Witze zu reißen. Technologisch ermöglichte vernetzte Öffentlichkeiten funktionieren in dieser Hinsicht wie Parks und Einkaufszentren es für frühere Generationen getan haben. Als soziale Konstrukte schaffen Social Media vernetzte Öffentlichkeiten, die Menschen erlauben, sich als Teil einer größeren Gemeinschaft zu sehen. Teenager verbinden sich mit vernetzten Öffentlichkeiten aus denselben Gründen, aus denen sie schon immer Teil einer Gemeinschaft sein wollten: Sie wollen zu einer größeren Welt gehören, indem sie andere Menschen treffen und sich frei bewegen können. (Übers. Ph.W., Kindle Pos. 210 ff.) 

Daran schließen dann individuelle Überlegungen zu Identität, Privatsphäre, Abhängigkeit, Cybermobbing, digitalen Kompetenzen und Gefahren im Internet an. Dadurch, dass Boyd einer Erwachsenenperspektive, welche Jugendliche durch ihren Medienkonsum als latent gefährdet ansieht, die Sicht der Jugendlichen selbst entgegenhält, erscheinen viele Themen in einem neuen – optimistischeren Licht. Phasenweise wirken die Ausführungen verharmlosend. 

Letztlich ist die Grundhaltung des Buches aber überzeugend: Nur wenn Erwachsene mit Jugendlichen zusammen die Welt von morgen gestalten, wird sie lebenswert sein: 

Vernetzte Öffentlichkeiten werden erhalten bleiben. Statt sich gegen Technologie zu wehren oder sich davor zu fürchten, was passiert, wenn Jugendliche Social Media nutzen, sollten Erwachsene ihnen dabei helfen, die Kompetenzen zu erwerben, die sie benötigen, um die Komplikationen zu meistern, welche das Leben in einer vernetzten Gesellschaft mit sich bringen. In der Zusammenarbeit können Erwachsene und Jugendliche eine vernetzte Welt schaffen, in der wir alle leben wollen. (Übers. Ph. W., Kindle Pos. 3457)

Das Buch liest sich flüssig, weil es theoretische Überlegungen an Gesprächen mit Jugendlichen langsam entwickelt. Wer sich mit den Arbeiten von Boyd schon auseinandergesetzt hat, findet wenig Neues – das Buch ist für ein bereiteres Publikum gedacht, das sich in die Materie einlesen will. 

xkcd