Social Media als Flugblatt: Gewalt und Widerstand

Theodor Adorno und Max Horkheimer haben 1956 über Theorie und Praxis diskutiert. In ihren Gesprächen findet sich diese Perle:

Adorno: Technik ist nicht heilig.
Horkheimer: Marx hat schon das Moment, daß in einer falschen Gesellschaft die Technik sich falsch entwickelt.

Immer wieder sehe ich mich dem Vorwurf ausgesetzt, ich würde die hässlichen Seiten von Social Media ausblenden, das ganze »Social-Media-Meer voll Dummheiten und Geschwätzigkeit, in dem halt selten Perlen reifen«, wie das Urs Bühler in der NZZ kürzlich formulierte.

Die Diagnose ist einfach: Seit handliche Geräte allen Menschen eine Stimme geben, mit der sie eine kleine Öffentlichkeit erreichen können, finden sich in ihren Kanälen Dummheiten, Hass, Aufrufe zur Gewalt und massive Übergriffe auf andere. Die Betreiber der Plattformen sehen diesem Treiben mehr oder weniger tatenlos zu: Entweder richten sie schwerfällige Meldeformulare ein, mit denen dann ein Bruchteil der problematischen Inhalte gefiltert werden, oder sie geben vor, dass die Verantwortung für die Inhalte bei den Usern liege und nicht bei ihnen, die lediglich eine Technologie zur Verfügung stellten.

Meine Standardreaktion auf diese Kritik ist der Hinweis darauf, dass sich die Möglichkeit (und Pflicht) zur Redaktion auf die einzelnen Nutzenden übertragen hat: Anders als eine Zeitung, deren Inhalte von im Impressum Genannten verantwortet werden, stellen sich die Kommunikationspartner in sozialen Netzwerken ihre eigenen Nachrichten zusammen, indem sie Filter verwenden. Jemandem folgen, abonnieren, blockieren, auf eine Liste setzen, einer Gruppe beitreten, ausblenden etc. sind alle Filtervorgänge. Viele Plattformen geben Nutzerinnen und Nutzern Filtersouveränität.

Selbstverständlich sind die Werkzeuge, um Filter zu erstellen, noch sehr schlecht ausgebildet. Missverständnisse in Bezug auf die Öffentlichkeit von Inhalten lassen selbstverständliche Vorgänge wie Blocken von Accounts als etwas Verwerfliches erscheinen, während es dabei lediglich darum geht, sich vor möglichen Äußerungen und Angriffen zu schützen. Dieser Schutz ist heute schlecht ausgebildet: Verletzbare Personen ziehen sich immer wieder aus Social Media zurück, weil sie sich mit dem Dreck, den sie dort antreffen, nicht mehr auseinandersetzen können. Es bilden sich auch in Subkulturen enge Normen. Wer ihnen nicht entspricht, muss mit Sanktionen rechnen. Das darf nicht sein.

Alice Marwick ist nicht die einzige prominente Stimme, welche das »gebrochene Versprechen« der Social Media beklagt (Originalartikel im New Scientist):

Rather than encouraging openness, transparency or authenticity – let alone activism or freedom – social media has re-inscribed a limited view of success and a surprisingly narrow range of acceptable behaviour. While this may differ between social groups, cultures and nationalities, social media’s early, revolutionary promise has been replaced by a jockeying for popularity and status that is far from world-changing.

Damit sind wir zurück bei Horkheimers Aussage, dass sich in einer falschen Gesellschaft auch die Technik falsch entwickle. Das Dilemma der Social Media ist das Dilemma aller Medien: Dürfen sie die Welt und die Gedanken der Menschen so zeigen, wie sie sind – oder sollen sie zeigen, wie sie sein sollten? Und wer entscheidet, wie sie sein sollen?

Bildschirmfoto 2014-06-30 um 11.50.30Herrscht ein Konsens in Bezug auf die Frage, ob ISIS Twitter als Mittel zur Mobilisierung von Kämpfern verwenden sollte, so bröckelt der in Bezug auf die Frage, was eine akzeptable Meinung und was grundloser Hass ist, sehr schnell. Social Media machen nicht nur Gedanken sichtbar, die Menschen medienunabhängig haben, sondern sie weisen spezifische »Affordances« auf, indem sie Anreize für bestimmte Inhalte machen. Nicht jede Botschaft verbreitet sich auf Social Media, ergo schüren sie Hass, regen zu Diskriminierung und Rassismus an – ohne dass das irgendwie relativiert werden muss.

Betrachtet man das Problem differenziert, so erscheint es auf drei Ebenen:

  1. Wie können Menschen Social Media so nutzen, dass sie sich vor Übergriffen schützen können?
  2. Wie können Gesellschaften ein friedliches Zusammenleben sicher stellen?
  3. Wie können Gesetze und Politik negative Auswüchse in Social Media wirksam bekämpfen, ohne massiv in Grundrechte eingreifen zu müssen?

Diese Aufstellung zeigt einerseits, wie grundsätzlich die Fragen sind, die in einer oberflächliche Kritik sozialen Netzwerken angelastet werden. Selbstverständlich verstärken sie bestimmte Tendenzen – die aber erstens schon bestehen und zweitens auf eine entsprechende Resonanz stoßen. Andererseits wird erkennbar, dass einfache Vorschläge Scheinlösungen sind. Wer verhindern kann, dass ISIS Twitter nutzt, verhindert auch, dass sich Widerstand gegen totalitäre Systeme bildet.

Social Media sind heute, was Flugblätter früher waren. Sie enthielten Nazi-Propaganda, waren also Mittel zur Vernichtung von Millionen von Menschen. Und sie wurden vom Widerstand, der »Weißen Rose« genutzt. Wie Social Media und jede Technologie waren sie nicht heilig. Aber auch nicht Gegenstand naiver Lösungen.

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Flugblatter der Weißen Rose, die RAF-Flieger abgeworfen haben.

 

2 Kommentare

  1. Julia Seeliger sagt:

    Korrigiere: ein (staatlich verbrieftes) Recht, absolut vor „Übergriffen“ Dritter geschützt zu werden, gibt es nicht und das ist auch gut so.

  2. Einen absoluten Schutz für Übergriffen gibt es in einer freien Gesellschaft nicht. Ob online oder offline. Online tut es im Allgemeinen weniger weh.

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