BYOD – die grosse Ablenkung

Kürzlich habe ich mit einem Schüler gesprochen, der in seiner Maturarbeit untersuchen will, wie stark die Laptops, welche Schüler:innen an Gymnasien nutzen, sie vom Lernen ablenkten. Er hat an seiner Schule eine Umfrage durchgeführt und in der Auswertung bemerkt, dass für viele Schüler:innen diese Ablenkung gross ist und sie sich wünschten, es gäbe sie nicht.

Dieses Gefühl teilen viele Lehrpersonen. Sie beobachten, dass viele Schüler:innen dazu neigen, im Unterricht den Laptop entweder dafür zu nutzen, um Arbeiten aus anderen Fächern zu erledigen – oder darauf auf Unterhaltungs- und Ablenkungsangebote zugreifen, die es ihnen erschweren, Lehrvorträgen zu folgen oder an Unterrichtsgesprächen teilzunehmen. Einzelne Schüler:innen brauchen den Laptop als eine Ablage für das Smartphone, dessen Nutzung in BYOD-Settings oft nicht verboten wird, weil der Zugang zu Bildschirmen und digitalen Angeboten ja ohnehin erlaubt ist. Also geben Schüler:innen zuweilen vor, am Laptop Notizen zu machen oder zu recherchieren, während sie an ihrem Handy spielen oder chatten.

Die Wahrnehmungen von Lehrenden und Lernenden können mit einer aktuellen Befragung von über 5000 Schüler:innen abgeglichen werden. Darin geben knapp 40% an, sie seien schneller abgelenkt, wenn sie mit digitalen Medien arbeiten – nicht die Mehrheit, aber doch ein relevanter, ja beträchtlicher Anteil.

Wenn ich im Folgenden den Befund etwas genauer analysiere, dann mit dem Ziel, Schlüsse abzuleiten, mit dem BYOD-Unterricht verbessert werden kann. An vielen Schulen auf der Sekundarstufe II wurde er eingeführt, ohne dass Schüler:innen oder Lehrpersonen das explizit gewünscht hatten. In einigen Fächern bietet es sich methodisch und inhaltlich an, digitale Arbeitsformen ins Schulzimmer zu integrieren, in anderen erfordern sie zumindest eine Umstellung der bisher vorherrschenden Praktiken.

(1) Gesteigerte Qualität der Ablenkung

Ablenkung gab es schon immer in Schulzimmern. Schüler:innen haben geschwatzt, gelesen, zum Fenster rausgesehen, Spiele gespielt. Es gibt wenig, was mehr Kreativität beim Finden von Ablenkungsquellen auslöst, als Unterricht. Der entscheidende Unterschied digitaler Geräte: Sie ermöglichen einen Zugang zu Unterhaltung, die von einer Industrie explizit zu diesem Zweck hergestellt wurde. TikTok ist professionelle Ablenkung auf höchstem Niveau, genauso wie BrawlStars oder Snapchat. Diese Angebote verbinden Addictive Design mit sozialer Einbettung und schaffen so eine Art von Motivation, welche Unterricht nicht erzeugen kann.

Mit digitalen Geräten sind diese Angebote immer eine App entfernt. Ja, Schüler:innen können diese Apps deinstallieren, sich mit Produktivitätstools zwingen, die Lernumgebung nicht zu verlassen. Aber sie sehen auch auf die Bildschirme anderer Lernender, die gerade Chess.com offen haben oder auf Zalando Kleider ansehen – und erinnern sich, dass sie auch noch eine Partie des neuen Spiels spielen können, zumal die Lehrperson eh gerade nur repetiert… (Ergänzung 17. Dezember: Eine neue Studie zeigt, dass Ablenkung ansteckend ist.)

(2) Wie sieht wirksamer BYOD-Unterricht aus?

Vor sieben Jahren habe ich an Schulen darüber geredet, wie guter BYOD-Unterricht gestaltet werden sollte. Heute kann man das an zwei Merkmalen festmachen:

  1. Gibt es klare Sequenzen mit Laptop-Nutzung und solche ohne Laptop-Nutzung?
    Ist das nicht der Fall, sind Schüler:innen immer irgendwie am Gerät, ohne dass geklärt ist, was sie damit genau tun sollen. Das macht es für sie gleichermaßen schwierig, die Geräte wegzulegen wie sie wirksam zu nutzen.
    In einem bewusst gestalteten BYOD-Unterrichts erkennen Schüler:innen, wann Aufgaben nur mit dem Laptop gelöst werden können – und wann das kontraproduktiv ist. Sie legen in gewissen Phasen gezielt Notizen am Laptop an – und in anderen von Hand oder gar nicht.
  2. Neben der Sequenzierung ist es wichtig, dass Arbeitsformen gefunden werden, bei denen die Kultur der Digitalität echt genutzt wird und digitale Arbeitsformen nicht eine Art Simulation von dem sind, was ohne digitale Geräte im Unterricht darstellen würde. OneNote ist eine Anwendung, die dazu animiert, Skripte und Arbeitsblätter auf eine Art zu digitalisieren. OneNote hat keine Kraft, bietet keine Affordanz, die genuin digital ist. Digitale Arbeit erfordert Referenzialität, Kollaboration und Algorithmizität. Es geht nicht darum, Geräte zu nutzen, sondern sie auf eine Art zu nutzen, die professionelle fachliche Arbeit mit genuin digitalen Werkzeugen ermöglicht.

Wenn problematischer BYOD-Unterricht stattfindet, fördert das die Nutzung der Geräte als Ablenkungsmaschinen.

(3) Lernen in einer Kultur der Digitalität

Vor 10 Jahren habe ich darüber geschrieben, wie sich Konzentration verändert hat. Eine «digitale Konzentration», so meine damalige Formulierung, müsste von einer «traditionellen Konzentration» abgegrenzt werden:

Der Begriff »Konzentration« könnte gut auch auf die Buchkultur zurückgeführt werden. Er wertet einen primären, vom Text ausgehenden Reiz auf und sekundäre Reize ab. Ein »tiefes« und lineares Lesen erhält den Vorzug vor einem »oberflächlichen« und vernetzten. Zunächst einmal scheint das einleuchtend: Wer einen Zusammenhang erfassen will, muss längere Texte ergründen können, surfen reicht dafür nicht aus. Nur: Hier betrachten wir einen Wissenszugang, der geprägt ist von einem traditionellen Paradigma, von den Mythen der Buchkultur. Deshalb spreche ich von »traditioneller Konzentration«. Die Möglichkeiten einer »digitalen Konzentration«, in der Vernetzung und Multitasking eine wesentliche Rollen stehen, sind noch kaum ergründet.

Diese Idee ließe sich im Hinblick aufs Lernen ausweiten. Nicht alles, was als Ablenkung erscheint, ist auch Ablenkung. Oft gehen solche Sichtweisen davon aus, Menschen müssten beim Lernen möglichst lange eine bestimmte Wahrnehmungshaltung einnehmen. Dabei blenden sie aus, dass Ambient Awareness, Multitasking und andere Formen der genuin digitalen Konzentrationssteuerung in der Auseinandersetzung mit digitalen Artefakten einen immensen Wert besitzen. Wenn es so aussieht, als starre jemand in einen Bildschirm, so kann das ein Zeichen für einen enormen Fokus auf einen Primärreiz sein, eine Interaktion mit vielen wichtigen Impulsen gleichzeitig bedeuten oder auch für maximale Ablenkung stehen – wir können das nicht erkennen.

(4) Ist Ablenkung schlimm?

In seinem lesenswerten Essay «Faulheit gibt es nicht» zeigt der Psychologe Devon Price, warum es sinnvoll sein kann Aufgaben aufzuschieben. Er schreibt etwa:

Die Lösung besteht darin, herauszufinden, was Menschen in diesen Situationen zurückhält. Wenn Angst das Haupthindernis ist, müssen Prokrastinierende tatsächlich vom Computer/Buch/Word-Dokument weggehen und sich einer entspannenden Tätigkeit widmen.

Diese Sichtweise sollte man auch auf Ablenkung im Unterricht einnehmen. Es gibt einen Grund, weshalb Schüler:innen in diesem Moment lieber etwas anderes tun, als das, was die Lehrperson von ihnen erwartet (oder sie selber von sich erwarten). Vielleicht passen die Aufgaben nicht zu ihrem Lernstand, sind also zu einfach oder zu schwierig? Vielleicht sind sie müde, weil sie in den Stunden zuvor anstrengende Aktivitäten ausgeführt haben?

Sich abzulenken kann unter Umständen eine gesunde, vernünftige Haltung sein. Ablenkung ist nicht per se schlimm, auch nicht an digitalen Geräten. Aber sie hat fast immer einen Grund.

(5) Die strukturellen Probleme von (Schweizer) Gymnasien

Das Gymnasium steckt in einer strukturellen Krise, die ich bereits hier und hier ausführlich diskutiert habe. Kurz gesagt bieten sie zu wenig Individualisierung an, lähmen sich selber durch ein überholtes Fächerdenken und versuchen Schüler:innen mit einer Prüfungskultur unter Druck zu setzen, welche den Aufbau von Motivation und Interesse behindern. Schüler:innen nehmen Unterricht oft als lästige Pflicht auf dem Weg zum Abitur oder zur Matur wahr. Und was tun Menschen, wenn sie lästige Pflichten erfüllen müssen? Sie lenken sich ab.

Damit kann ich ein Fazit formulieren: Erstens müssen Schulen, die mit BYOD arbeiten, das auf eine Art professionell tun, welche aus der Sicht der Schüler:innen deutlich macht, welche Arbeiten sinnvollerweise mit und welche ohne Einsatz von Computern erfolgen soll. Hier braucht es neue didaktische Konzepte, welche die medialen Realitäten berücksichtigen und nicht versuchen, überholte Unterrichtskonzepte zu bewahren. Das ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen das Ablenkungspotential von Laptops im Unterricht. Zweitens müssen Schulen schnell besser werden, sie müssen Schüler:innen auf eine Art lernen lassen, die deutlich macht, dass das mehr bringt als die nächste Runde BrawlStars oder die nächste halbe Stunde TikTok.

(Und noch wenig Werbung: Wie das geht, steht in meinem neuen Buch. Es erscheint in wenigen Tagen, man kann es vorbestellen.)

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