Ich lasse meine Schüler*innen viele Schreibaufgaben zuhause erledigen. Meist läuft das so ab:
- Wir beschäftigen uns im Unterricht mit einem Text, führen Gruppenarbeiten durch, erarbeiten Einsichten, klären Unklarheiten, entwickeln unterschiedliche Perspektiven auf einen Text.
- Daraus ergibt sich eine Schreibaufgabe. Erste Entwürfe entstehen im Unterricht, die Lernenden geben sich Feedback, ich berate.
- Zuhause wird der Text ergänzt, überarbeitet, fertiggestellt. Sie reichen den Text über Teams ein.
- Ich lese, korrigiere, kommentiere ihn und schreibe ein Feedback mit einer Note.
Meine Klassen können im Unterricht auf Netz-Ressourcen zugreifen. Ich leite das oft auch an und fordere es ein. Aus meiner Sicht ist es eine pädagogische Unsitte, Dinge nicht nachzuschlagen und durch eigene Recherchen abzuklären, was man sagen oder verstehen möchte.
Selbstverständlich tun sie das dann auch, wenn sie Texte schreiben. Und hier entsteht dann das Problem: Ich lese einen Satz in einem Text eines Schülers. Der Satz drückt eine wesentliche Erkenntnis prägnant aus. Ich möchte einen lobenden Kommentar hinterlassen – zucke aber kurz zusammen: Falle ich gerade auf ein Plagiat rein?
Dann verliere ich mich in einer Google- und Internet-Spirale und entdecke, dass nicht der betreffende Schüler etwas plagiiert hat, sondern das Plagiat zwei Texte zuvor stand, ich es damals aber nicht bemerkt habe. Meine Skepsis ist irgendwie berechtigt und doch unberechtigt.
Es ist nicht so, dass die Texte brillant werden, weil sich in ihnen Gedanken aus dem Netz finden. Gerade die literarischen Kommentare im Netz sind oft qualitativ eher mäßig, schlecht begründet oder von den seltsamen Konventionen des deutschen Literaturunterrichts geprägt. Schüler*innen können das oft nicht richtig einschätzen, was glatt formuliert ist, wirkt klug und inspirierend.
Aus ihrer Sicht ist es völlig naheliegend, dass sie beim Schreiben auch ins Netz schauen. Mache ich ja auch, wenn ich einen Text schreibe. Aber es führt bei mir dazu, dass ich diese Texte nicht mehr richtig schätzen kann.
Gibt es Lösungen?
- Bei Sachtexten fordere ich Bezüge zu Quellen ein. Das hilft: Die Schüler*innen verstehen, dass Referentialität wesentliches Element eines Textes ist und nutzen sie produktiv. Nur möchte ich bei gewissen Schreibaufgaben halt die Stimme der Person hören, die einen Text schreibt. Dazu braucht es keine Zitate oder Verweise.
- Bootcamp-Methoden nützen auch: Notenabzüge für Plagiate, drastische Warnungen, ein bisschen Google-Show am Beamer. Wampfler ist ein krasser Internet-Checker, den können wir so leicht nicht reinlegen, wenn der uns erwischt, dann wirds ganz schlimm. (Ist einfach nicht die Rolle, die ich einnehmen möchte).
- Netzzugang kurzzeitig verhindern, Entwürfe so erarbeiten, dass Kerngedanken unabhängig von der Recherche entstehen und so dann auch im Text bleiben, obwohl scheinbar kluge Dinge von anderen Personen kopiert werden könnten.
- Meine Skepsis abschalten. Vielleicht ist meine Netz-Nutzung das Problem und ich müsste einfach die Texte auf einem Tablet korrigieren, bei dem das WLAN ausgeschaltet ist. Vielen Schüler*innen helfen Eltern, Geschwister und Bekannte bei Schreibaufgaben. Das merke ich zuweilen auch, kann es aber nicht nachweisen. Vielleicht einfach diese Gelassenheit übertragen?
- Noten abschaffen. Wenn ich nicht bewerten muss und die Schüler*innen nicht bewertet würden, würden wir alle viel weniger unsinnige Dinge machen. Wir müssten uns nichts vorspielen, weder Gelehrigkeit noch Strenge.
Ich bin etwas unschlüssig und verunsichert. Bei den kommenden Maturaprüfungen sind nur ausgewählte Web-Ressourcen zugänglich. Das ist irgendwie seltsam, aber auch beruhigend: Weil die Möglichkeit entfällt, dass ich jemanden durchfallen lassen muss, weil sie versuchen, mit einem Plagiat eine bessere Note zu erhalten.
Für die einen ist ein ein Dilemma: „Je nach Situation…“. Für mich gehört das Aushalten und Umgehen damit zu einem Kern pädagogischen Handelns.
Noch spannender empfinde ich die Diskussion solcher Dilemmata mit den Lernenden selbst. Von Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben kennen wir die praktische Relevanz des Themas. In Hinblick der Vorbereitung auf die Matura mit Noten könnte es sehr spannend sein, gemeinsam Kriterien festzulegen für eine genügende, gute oder sehr gute Arbeit (erfüllte Kompetenz). Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die Lernenden sich für die Relevanz von eigenen Texten und korrekten Zitaten aussprechen. In diesem Falle würde ich eine Software wie Plagscan einsetzen. Diese ist gerecht, entlastet Lernende und Lehrende und macht einen richtig professionellen und „echten“ Eindruck. Die Fehlbaren muss man dann nicht durchfallen lassen, sondern könnte sie einfach einen virtuellen Shitstorm erleben lassen;-)
„Nur möchte ich bei gewissen Schreibaufgaben halt die Stimme der Person hören, die einen Text schreibt.“
Als Lehrer habe ich lange Zeit beklagt, dass SuS selten bis nie „authentische Texte“ schreiben würden. Eines Tages habe ich begriffen, dass sie halt Texte für die Schule schreiben und ich kaum je „die wirkliche Stimme der Person“ vernehmen würde. LuL und SuS richten sich ein in diesem Schulspiel (unvergleichlich auf den Punkt gebracht zB von Ernst Eggimann: „Landschaft des Schülers“, Arche 1973), einen Ausweg gibt es vermutlich nicht (Eggimann: „Am Ende hält die Schule für die Schule Schule.“).
Ja: Wer sitzt jeweils vor dir im Unterricht? Schülerinnen und Schüler. Die Rollenkleider verbergen allermeistens die Personen. Und du als Lehrer bist halt Lehrer und bleibst es. Damit wird Unterricht möglich.
Können deine SuS „die Stimme der Person Wampfler“ hören, wenn sie einen Text schreibt? Könnte/würde man noch unterrichten, wenn sich „Personen“ unterhielten und nicht SuS und LuL?
Haben die SuS nicht recht, wenn sie sich nicht mit „der Stimme der Person“ äussern, die sie sind; diese damit quasi schützen?
Das leuchtet mir sehr ein und entlastet auf eine Weise. Schützt vor Enttäuschungen.
Gleichzeitig habe ich die Fantasie, dass „die Stimme der Person“ immer dann etwas hörbarer wird, wenn wir uns als Personen zeigen. Im Laufe einer Zusammenarbeit mit einer Lerngruppe erlebe ich es als ausgesprochen angenehm, wenn ich mich selbst immer häufiger von „der Lehrerinnenrolle“ distanziere, mich traue mehr zu zeigen – den Schüler*innen mich selbst zumute. Dann entsteht immer mal wieder eine Dynamik, in der ich tatsächlich meine, „die Stimmen der Personen“ zu hören. Das passiert umso wahrscheinlicher, wenn es gerade keine Benotung gibt. Offenbar gelingt es dann sowohl den Schüler*innen als auch mir aus den „Rollen“ zu fallen. Das sind die Tage, an denen ich durchs Schulhaus schwebe. Weil es sich einfach leicht anfühlt – Unterricht zu machen, ohne ihn zu machen.
das ist genau das Dilemma, vor dem wohl ganz viele Lehrpersonen stehen. Je nach Situation muss das wohl anders angegangen und gelöst werden. Ein allgemeingültige Antwort kann wohl niemand geben, Diskussionen im Kollegium sind enorm nützlich, um den eigenen Standpunkt zu finden