Das ist der zweite Teil eines Essays über den Wert des humanistischen Bildungsideals in Zeiten von Social Media.
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Latein und Griechisch nehmen innerhalb des humanistischen Bildungsprogramms aus zwei Gründen eine herausragende Position ein:
- Sie sind Symbole für Bildungsinhalte, die nicht an Nützlichkeit orientiert sind und so eine tiefere, allgemeinere und daher dauerhaftere Bildung ermöglichen sollen.
- Sie führen eine exemplarische Form des Menschseins und der menschlichen Gesellschaft vor Augen.
Die beiden Gründe sind gekoppelt – 1. alleine könnte so verstanden werden, dass es komplett irrelevant ist, welche Inhalte Bildungsprozessen zugrunde liegen, sofern sie eine intensive Auseinandersetzung ermöglichen und die verschiedenen Kräfte des Menschen gleichmäßig beanspruchen und herausfordern. 2. betont den Wert der antiken Kultur besonders, allerdings nur, wenn man wie Humboldt davon ausgeht, dass »die Griechen für alle Menschen geltender Maßstab« sind, »eine Erscheinung, von der er den Maßstab zur Bestimmung der Moralität und der Idealität eines Menschen und eines Volkes nimmt«. (Clemens Menze)
Das Argument 1. wird in der aktuellen Diskussion über den Wert des Lateinunterrichts gleichzeitig genutzt und unterwandert, wenn die Nützlichkeit des Erlernens einer alten Sprache in den Vordergrund rückt. Wie bereits früher festgehalten – werden hauptsächlich sechs Argumente genutzt, um sich für eine starke Verankerung von Latein im Bildungsangebot einzusetzen:
- Wer Latein lernt, kann andere Sprachen leichter lernen.
- Wer Latein lernt, beherrscht und versteht die eigene Sprache besser.
- Latein hilft, methodisches Denken und Problemlösekompetenz zu schulen.
- Latein ermöglich interkulturelles Lernen.
- Latein ist Förderung von begabten Schülerinnen und Schülern.
- Latein wirkt identitätsstiftend.
Javascript – oder eine andere geeignete Programmiersprache – könnte Latein mit ganz ähnlichen Argumenten ablösen: Eine Programmiersprache mag zwar nur beschränkte Einsichten in die syntaktischen Zusammenhänge einer Sprache anbieten, ist aber der Schlüssel zu einem algorithmischen Denken, das im MINT-Bereich viele Türen öffnet. Wie Latein einen Zugang zu den Quellen moderner Sprachen bereit hält, ist eine Programmiersprache der Schlüssel zum Verständnis all der Oberflächen, die wir täglich bedienen.
Nur der kulturelle-anthropologische Zugang rückt etwas aus dem Fokus: Eine Sprache zu lernen, welche für die Interaktion mit Maschinen konzipiert wurde, ist kein Weg zu einer Auseinandersetzung mit fremden Kulturen oder idealen Lebensweisen von Menschen. In diesem Argument liegt für mich der Schlüssel: Wenn nicht mehr die Interaktion mit Menschen im Fokus der Bildung steht, sondern die mit Maschinen oder abstrakten Algorithmen, dann stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieser Automaten.
Ich habe schon vor 50 Jahren die ketzerische Haltung vertreten, dass nur noch diejenigen Latein lernen sollten, die es im Studium auch tatsächlich benötigen.
Ihre Idee, anstelle einer alten Sprache eine moderne Computersprache zu lernen ist verblüffend. Ich war aber immer der Meinung, dass die Grundlagen von Formaler Logik und allenfalls von Syntax und ihren Zusammenhängen mit Semantik gewisser Programmiersprachen noch nützlicher wäre.
Über fremde Kulturen informiert man sich imho am zweckmässigsten unabhängig von Latein, weil diese Sprache zu viele Barrieren aufstellt.