Auf Slate hat Jacob Silverman heute einen interessanten Artikel über Literaturkritik in Zeiten von Social Media publiziert. Sein Fazit: In den Zeiten, wo viele AutorInnen Twitter und Tumblr verwenden, um mit ihren Leserinnen und Lesern in Kontakt zu treten und ein öffentliches Bild zu pflegen, gibt es kaum noch kritische Rezensionen, sondern nur noch wohlwollende:
[I]f you spend time in the literary Twitter- or blogospheres, you’ll be positively besieged by amiability, by a relentless enthusiasm that might have you believing that all new books are wonderful and that every writer is every other writer’s biggest fan. It’s not only shallow, it’s untrue, and it’s having a chilling effect on literary culture, creating an environment where writers are vaunted for their personal biographies or their online followings rather than for their work on the page.
[Übersetzung phw:] Wenn man Zeit auf Twitter oder Blogs verbringt, wird man überwältigt sein von der Freundlichkeit und von einem unablässigen Enthusiasmus, der einem den Eindruck verleiht, alle neuen Bücher seien wunderbar und Autoren sei die größten Fans von anderen Autoren. Das ist nicht nur oberflächlich, sondern falsch, und es hat einen negativen Effekt auf den Literaturbetrieb, weil es eine Umgebung schafft, in der Schriftstellerinnen und Schriftsteller aufgrund ihrer Biografien oder Online-Präsenz beurteilt werden und nicht für ihre Arbeit am Text.
Silverman gibt weitere Gründe an, die seine Beobachtung erklären könnten:
- Die »Zentrifugalkräfte« auf Social Media sind positive: Wer selber wahrgenommen werden will, muss andere loben, ihre Nachrichten verbreiten und »like« drücken. Kritische Menschen werden ignoriert und verlieren fast automatisch an Einfluss und Aufmerksamkeit.
- Der Medienwandel führt dazu, dass Literaturkritik online und im Print in eine Konkurrenzsituation treten – offenbar sind positive Rezensionen bei Leserinnen und Lesern beliebter und werden deshalb vorgezogen.
- Empfehlungen können leichter monetarisiert werden: Amazon zahlt Blogs, die auf ein Buch verlinken, eine Prämie. Wer also ein Buch empfiehlt, erhält dafür eher Geld als für einen heftigen Verriss.
- Herausgeber stehen kritischen Beurteilungen ablehnend gegenüber, weil sie Resultat einer persönlichen Abneigung sein könnten.
Diese Tendenz, so Silverman, müsse aufhören. Sie schade der Glaubwürdigkeit einer ganzen Branche und verhindere eine ernsthafte, tiefgründige intellektuelle Auseinandersetzung. Sein Fazit:
[A]ffirmation is the habitual gesture of the Internet. We like, favorite, and heart all day; it is a show of support and agreement, as well as a small plea for attention: Look at me, I liked this too. Follow back? […] The problem with Liking is that it’s a critical dead-end, a conversation nonstarter. It’s opinion without evidence—or, really, posture without opinion. [A] feeling is expressed without saying much at all.
[Übersetzung phw:] Bestätigung ist auf dem Internet Gewohnheit. Wir »liken«, favorisieren und verteilen Herze – den ganzen Tag, es ist ein Zeichen von Unterstützung und Einverständnis, zudem auch eine Bitte um Aufmerksamkeit: Schau mich an, ich mag das auch. Folgst du mir? […] Das Problem mit dem »Liken« ist, dass es eine kritische Sackgasse ist, die ein Gespräch verhindert. Es ist eine Meinung ohne Beleg, oder aber: Eine Pose ohne Meinung. Der Ausdruck eines Gefühls, ohne viel zu sagen.
Dieses Beispiel zeigt sehr schön, dass es auf Social Media kaum eine Trennung von Inhalt und Profil gibt. Was wir sagen macht aus, wer wird sind und wie wir wahrgenommen werden möchten. Social Media kann nicht die einzige Form von Konversation werden, gerade weil Kritik wichtig und nötig ist.
Very fascinating details you’ve got noted, appreciate this for publishing.
um das mal anders zu aufzurollen: diffamierende kommentare gibt/gab es im internet auf foren etc. eigentlich häufiger als im realen leben, gerade aufgrund der halbanonymität – es gibt dafür sogar einen neologismus: flaming.
doch die erwähnten „social media“ sind vielleicht gerade als reaktion darauf so ausgelegt, dass man unliebsame wortmeldungen entweder gar nicht abgeben kann (kein dislike button), oder zumindest irgendwie ausblenden (unfrienden, blocken, löschen). das kommt durch die wesentliche „innovation“, dass jeder user seinen eigenen n-to-n kommunikationsraum bildet, den er selbst verwalten kann. dies ist imho ein hauptgrund für den erfolg dieser medien: man kann selbstgerecht sein. so könntest du nun auch diesen kommentar nicht veröffentlichen, wenn er dir nicht passt.
letzten endes stimme ich der konsequenz aber trotzdem nicht zu. ich denke, social media fördern eher die diskusionskultur. man wird gezwungen, sachlicher und gesitteter zu argumentieren, die person(en) am andern ende der leitung zu berücksichtigen, gerade weil ein jeder eine gewisse authorität erhält, nach persönlichem erachten nicht angemessenes verhalten zu sanktionieren. insofern lautet die neue maxime nicht etwa „if you can’t say something nice, don’t say anything at all“.. sondern „if you can’t say something niceLY, don’t say anything at all“ – und das finde ich eigentlich begrüssenswert.
Wie ist das mit den prominenten Buchautoren, Wissenschaftlern bzw. Jounalisten im Printbereich? Ist bei denen denn tatsächlich eine Trennung von Werk und Person vorhanden oder überhaupt vorstellbar? Wenn einer erst mal „einen Namen hat“, kann er doch ( sehr lange jedenfalls) jeden Sch… veröffentlichen. Auch hier gilt m.E. ebenso wie in der Frage der „Zuverlässigkeit“ von Informationen: „Objektivität“ und „Sicherheit“ bzw. Unabhängigkeit von subjektiven Bewertungsmerkmalen gibt es nichts und hat es auch noch nie gegeben. Aber die Web2.0-Erfahrungen zeigen dies viel deutlicher als früher. Mithin ist es eher der Verlust einer Illusion von Objektivität als die Objektivität, die das Internet bewirkt.
Und ebenso ist es mit der Kritik. Das Internet bringt an den Tag, was bisher galt: Kritisieren ist unhöflich und im normalen Leben verpönt, weil es sozial einsam macht. Dies gilt/galt für den Alltag unter Gleichen. Kritisieren durfte allein die Obrigkeit, der Lehrer, der Vater. Davon übrig geblieben ist im bürgerlichen Literaturbetrieb: Allein der Literaturkritiker bzw. die unbekannten Peers im Peer Review des Wissenschaftsbetriebs sind bzw. waren die Berufskritiker, die auf Kritik spezialisiert und zur Kritik befugt waren. Ein guter Kritiker, der als Person (!) „einen Namen bekommen“ möchte, der MUSS Verrisse in seinem „Werk“ aufweisen. Und Peer Reviewer, die immer nur alles gutheißen, nutzen den wiss. Verlagen gar nichts. Dabei vergißt man leider häufig, dass diese Literaturkritiker bzw wiss. Peer Reviewer keineswegs „objektiv“ kritisieren, sondern natürlich durchaus auch nach ihren subjektiven Belangen. Sie können ja gar nicht anders, denn sie sind Menschen. Den Beobachter, der sich wirklich herausrechnen kann aus seinem Beobachtungsgegenstand, gibt es nicht.
Mit dem Internet ist das Sich-öffentlich-Äußern nicht mehr wie früher auf gefilterte ausgesuchte öffentliche Personen bzw. „Experten“ beschränkt. Und richtig ist: Mit dem neuen Medium und seinen Publikationsmöglichkeiten für alle stellt sich ganz neu die Frage: Was verstehen wir unter höflich? Wann ist es angebracht und wie? – Alle Leute , die sich im Internet tummeln, können bzw. müssen jetzt lernen, wie man Kritik äußert ohne unverschämt zu werden. Wie man Kritik äußert, die zur Sache argumentiert statt persönlich angreift. Alle Leute können bzw. müssen jetzt lernen, dass NUR zu liken und zu schleimen zwar formal keinen Ärger bringt, aber weiter auch nichts. Und dass echter Austausch, echte Kritik, echte Diskussion einen zwar nicht bei allen beliebt macht, und daher auch mal auf einen Satz zwanzig Twitterfollower verschwinden können. Aber was nutzen 2.000 Freunde, wenn ich sie nur habe, weil ich immer einen Knix vor ihnen mache?
Viele Probleme, die das Internet bzw. Web 2.0 vermeintlich geschaffen hat, entpuppen sich bei näherem Hinsehen als alte Probleme, die in Internetzeiten auf einer anderen Stufe und mit neuer Schärfe auftreten und daher manch einem zum ersten Mal auffallen.
I like 🙂