Aktuell steht das Bildungssystem vor zwei konkreten gesellschaftlichen Herausforderungen, die verbunden sind mit einer tiefgreifenden Transformation der Lebens- und Arbeitswelt: Der »Fachkräftemangel« meint das Problem, dass in Ländern wie der Schweiz nicht genügend qualifizierte Arbeitskräfte vorhanden sind, um die anfallende Arbeit zu verrichten. Bildungsgerechtigkeit ist seine Kehrseite: Viele Kinder und Jugendliche können vom Bildungssystem nicht so profitieren, dass sie zu qualifizierten Arbeitskräften werden können.
Wird das System gerechter, kann es den Anforderungen der Gesellschaft besser genügen. Wie das geschehen könnte, ist recht klar: Fachpersonen betonen etwa immer wieder Angebote im vorschulischen Bereich. (Vertiefte Schlussfolgerungen finden sich hier, insbesondere ab S. 68).
Hier möchte ich einen weiteren Vorschlag skizzieren. Er besteht darin, allen Jugendlichen das Recht zu geben, nach der obligatorischen Schulzeit eine dreijährige Schule auf der Sekundarstufe II zu besuchen. Neben gymnasialen Bildungsgängen gibt es heute auf dieser Stufe in der Schweiz die Handels- und Fachmittelschule. Beide sind in der Aufnahme selektiv. Als Alternative gibt es Berufslehren, bei denen entweder Berufs- oder Berufsmittelschullehrgänge besucht werden – kombiniert mit Arbeits- und Ausbildungszeit in Betrieben. Wer es heute nicht schafft, an einen Ausbildungsgang auf der Sekundarstufe II aufgenommen zu werden, muss eine Berufslehre absolvieren.
Mein Vorschlag wäre, das optional zu ändern. Wer eine Schule besuchen möchte, kann das. Denkbar wäre, dass ein Abschluss ungefähr den Stellenwert eines Lehrabschlusses hat, wenn entsprechende praktische Anteile in einem Praktikumsjahr nachgeholt würden. (So wie heute die Handelsmittelschule in Kombination mit einem Praktikum einer KV-Lehre mit BMS entspricht.)
Bildung auf der Sekundarstufe II sollte ein Grundrecht werden – auch wenn jemand keine Lehrstelle findet. »Matura für alle« hat Andreas Pfister seinen Vorschlag genannt, die Schulpflicht auszudehnen. Aus meiner Sicht ist es nicht sinnvoll, von einer Matura zu sprechen – sinnvoll wäre, »Sekundarstufe II für alle« zu fordern.
Das entwertet das duale System nicht. Wenn Jugendliche berufliche Lehren nicht attraktiver finden als drei Jahre Schule, dann müssten sich diese Ausbildungsgänge wandeln und attraktiver werden. Davon ist aber heute nicht auszugehen. Gerade aber für Jugendliche, die sich noch nicht sicher sind, wie ihre Berufswahl aussieht, die einen Anschluss für die obligatorische Schulzeit suchen, wäre ein Anrecht auf einen Schulbesuch nach der 9. Klasse sinnvoll.
Und wenn dieses Recht eingeführt wäre, könnte man darüber nachdenken, auch tertiäre Bildung für alle Menschen zu öffnen – unabhängig davon, ob sie eine Matur mitbringen. Auch hier geht es nicht darum, das Niveau bestimmter Bildungsgänge zu senken und alle Medizin studieren zu lassen – sondern allen Menschen Angebote zu machen, von denen sie profitieren können.
Es ist absehbar, dass die Zukunft der Schweiz auch mit der Bildung ihrer Bevölkerung zusammenhängt, denn Bildung – und vor allem mehr und längere Bildung für möglichst viele in nachwachsenden Generationen – ist die wichtigste Investition in die Zukunft.
Soziale Selektivität – Empfehlungen des Schweizer Wissenschaftsrats
