Interaktive Gespräche unter Lernenden als Kernvorstellung des Gymnasiums

Kürzlich habe ich hier beschrieben, weshalb ich aktuell eine Krise des Gymnasiums ausmache. Grundsätzlich geht es darum, dass das Gymnasium nicht konzipiert ist, um der gesellschaftlichen Transformation zu begegnen, die im Rahmen einer umfassenden Digitalisierung in den letzten Jahrzehnten erfolgt ist. In den folgenden Abschnitten möchte ich zeigen, wie eine Umgestaltung gelingen könnte.

Aus der Perspektive der Lernenden äußert sich das Problem oft im Wunsch, in bestimmten Fächern den Stoff einfach zuhause bearbeiten zu können, um dann Prüfungen abzulegen. Der Wunsch zeigt eine Wahrnehmung des Unterrichts, die im unten abgebildeten ICAP-Framework (hier der wissenschaftliche Aufsatz dazu) der Qualitätsstufe »passiv« entspricht. Kai Niebert wird in einem Beitrag fürs UZH Magazin wie folgt zitiert:

Auch heute bestehen noch rund 90 Prozent des Unterrichts insbesondere in den Gymnasien in der abstrakten Vermittlung von Wissen. Manchmal ist das richtig und notwendig, sagt Niebert. Doch gleichzeitig ist für ihn klar: «Bedeutungsvolles Wissen entsteht, wenn neue Informationen für uns relevant sind und wir sie im Alltag einsetzen und verbinden können mit bereits Bekanntem.»

Niebert: Glückshormone fürs Hirn, UZH Magazin 3/22

Im ICAP-Framework bedeutet das: Gymnasialer Unterricht muss konstruktiv und interaktiv werden. Chi und Wylie verstehen darunter Dialoge, welche folgendes Kriterium erfüllen:

[…] dialogues are truly interactive only if each speaker’s utterances generate some knowledge beyond what was presented in the original
learning materials and beyond what the partner has said;
thus, both partners need to be constructive.

Chi & Wylie 2014

Interaktivität hat also nichts damit zu tun, digitale Geräte zu benutzen – obwohl auch ein Programm ein Partner im Sinne von Chi und Wylie sein kann, wenn Lernende in eine Art Dialog damit treten, bei dem sowohl das Programm als auch die Lernenden Wissen erarbeiten können.

Geht man von dieser Gesprächsvorstellung aus, hat man einen einfachen Kern von dem, was qualitativ hochwertige Bildung am Gymnasium darstellt: Gespräche, bei denen Lernenden in der Interaktion mit anderen Lernenden Wissen generieren. Nimmt man die Einsichten von Niebert dazu, dann sollte dieses Wissen für Lernende relevant sein und einsetzbar in ihrem Alltag.

Ausgehend von dieser Einsicht kann man nun leicht beschreiben, weshalb z.B. eine Digitalisierung von Frontalunterricht auf einer qualitativ tiefen Stufe im Modell von Chi und Wylie stehen bleibt: Weil Erklärfilme oder digitale Skripte Lernenden keine solchen konstruktiven Interaktionen ermöglichen, sondern sie sogar verhindern. Wer sich durch Interfaces klicken muss, kann Wissensbestände weder verbalisieren (eine Bedingung für Chi und Wylie) noch sie im Alltag mit Bekanntem verknüpfen.

Dasselbe gilt für Fachkulturen, die weiterhin am Primat des Stoffes festhalten: Ein Mathematik- oder Biologieunterricht, in dem Themen »durchgenommen« werden, verwendet Settings, die geradezu verhindern, dass Lernende in Dialoge treten können.

Gute gymnasiale Bildung muss Möglichkeiten für tiefschürfende Lerngespräche schaffen, vielfältige Interaktionen ermöglichen, in denen relevantes Wissen aufgebaut werden kann. Die Angst, Lehrpersonen würden dann auf die Rolle von »Coaches« reduziert, schwingt bei solchen Aussagen immer mit – sie ist nicht berechtigt. Lehrpersonen nehmen ebenfalls an solchen Gesprächen teil, sie lernen dazu. Sie sind Partner*innen beim Lernen von Schüler*innen, sie ermöglichen es. Aber sie dozieren nicht mehr, weil das eine qualitativ wenig wertvolle Lernmethode darstellt.

Evaluiert man Unterricht, dann müsste diese Frage im Vordergrund stehen: Können Lernende interaktive Dialoge führen, in denen sie neues Wissen generieren? Ist das der Fall, ist Unterricht gelungen – wenn nicht, muss er verbessert werden.

Dabei spielt es nun keine Rolle mehr, ob digitale Medien eingesetzt werden oder nicht. Wir sind beim postdigitalen Gymnasium angelangt.

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