Die Klassen, die ich als Deutschlehrer unterrichte, arbeiten mit eigenen Laptops in einer Microsoft-365-Umgebung. Diese Voraussetzung nutze ich für dialogische, postdigitale Settings – d.h.
- Ich vermittle nicht Wissen, sondern schaffe Settings, in denen Schüler*innen im Austausch mit Vorarbeiten, der Klasse und mit mir Wissen erwerben können.
- Digitalität ist der permanente Modus unserer Arbeit, nicht ihr Fokus. Wir arbeiten – und nutzen dazu selbstverständlich auch digitale Medien.
Wie das konkret aussieht, möchte ich kurz an einem aktuellen Beispiel beschreiben.
1 – Lektüre
Ich lese mit der Klasse »Die Nacht so groß wie wir« von Sarah Jäger. Der aktuelle Roman folgt fünf Jugendlichen, die sich gegenseitig herausfordern und ihre Freundschaft auf eine Probe stellen.
Das Buch hat die Klasse in einer Hardcover-Ausgabe angeschafft, ich verwende für die Vorbereitung und die Suche im Unterricht auch eine E-Book-Ausgabe.

2 – Arbeitsumgebung
Materialien und Arbeitsaufträge sammle ich auf einer Seite im Netz, die ich der Klasse auch via Teams zur Verfügung stelle. Ich mache das so, damit das Material frei verfügbar ist. Für die Schüler*inne ist das kein zusätzlicher Speicherort, weil in Teams eingebundene Seiten aussehen, als seien sie Teil der Plattform.

3 – Der dialogische Auftrag
Die Klasse liest den Roman sehr unterschiedlich: Einige sind begeistert, andere gelangweilt. Dieses Ergebnis einer Diskussion hat mich zum Auftrag geführt, die Schüler*innen darüber nachdenken zu lassen, was eine Erzählung spannend macht. (Das ist eine klassische Fragestellung der dialogischen Didaktik, die Urs Ruf intensiv bearbeitet hat.)

Die Aufträge bearbeiten die Schüler*innen in Teams, ich gebe ihnen dazu auch Feedback.
4 – Sammlung der Kernideen und Auseinandersetzung damit
In einem Craft-Dokument habe ich die Kernideen der Klasse gesammelt und ihr zugänglich gemacht. So sind aus der Klasse »Theorien zur Spannung« entstanden, welche die Schüler*innen dann auch kommentiert und gewichtet haben.

In einem zweiten Schritt habe ich dann Theorien gelöscht und zusammengefasst, wenn das die Diskussion in der Klasse nahegelegt hat.
So hat die Klasse in der Auseinandersetzung mit der Lektüre und ihrer Rezeption literaturwissenschaftliche Einsichten gewonnen, die ich nicht vermittelt habe.
5 – Anwendung
Als Vergleich zur deutschen Erzählung schauen und besprechen wir den US-Film »Booksmart«, der eine ähnliche Ausgangslage thematisiert.
Die Theorien der Spannung werden dabei angewendet und modifiziert.
6 – Weg vom Stoff, hin zum Lernen
Was Spannung oder Suspense ist, kann ich einer Klasse in fünf Minuten mitteilen. Dann haben wir das durchgenommen und können weitergehen.
Diese Art der Didaktik, die Stoff abarbeitet, ist für mich nicht geeignet, bleibende Lernerfahrungen zu machen. Schüler*innen haben überzeugend argumentiert, weshalb derselbe Text sehr spannend oder total langweilig ist. Sie merken, dass sich Lesehaltungen unterscheiden, dass Urteile begründet sein können, auch wenn sie nicht der eigenen Sicht entsprechen.
Sie lernen, wie man literaturwissenschaftlich argumentiert und die Argumente überprüft, revidiert und systematisiert. Wir entdecken Fachbegriffe und verwenden sie. Dazu nutzen wir immer digitale Medien, Recherche, Darstellungen: Dabei gelingt fachliches und überfachliches Lernen.