
Ist Unterricht ohne Aufgaben denkbar? Diese Frage möchte ich im Folgenden kurz diskutieren – und skizzieren, welchen Wert das Nachdenken über dieses Problem hat.
Aufgaben bzw. eine an Schulen verbreitete Aufgabenkultur ist ein Problem für Schul- und Unterrichtsentwicklung: Aufgaben sind oft Teile von Prüfungen, die ohne Einbezug von Lernkontext, Lebenswelt, Persönlichkeit und Lernprozess Antworten abfragen, die in Musterlösungen festgelegt sind. Diese Aufgaben prägen dann implizit oder explizit die Lernkultur von Schulen, die Schüler*innen befähigen soll, Prüfungsaufgaben zu lösen.
Jürgen Oelkers führt diese Konzeption von Unterricht auf Gilbert Ryle zurück, der Lernen als eine Folge des Lehrens versteht:
Unterricht besteht entsprechend aus einer Serie von Aufgaben und dazu passenden Leistungen, wobei ein Zeitmass mitgedacht wird, etwa eine Schulwoche oder ein Semester. Der Einsatz von Lernzeit wird gesteuert durch Aufgaben, die den Lernenden gestellt werden, wobei auch Lehrende Aufgaben zu bewältigen haben, solche nämlich, die der Vorbereitung und Durchführung des Unterrichts dienen – Hausaufgaben für Lehrer also.
Jürgen Oelkers (2017): Von Emile bis Peergroup
Reformpädagogische Ansätze haben den Fokus vom Lehren hin zum Lernen verschoben. Entsprechend fand in den letzten 20 Jahren in den Fachdidaktiken eine intensive Auseinandersetzung mit Aufgabenkulturen statt, wie sie z.B. bei Criblez nachvollzogen werden kann.
Was sind Aufgaben?
Criblez spricht davon, Aufgaben seien die »kleinste Einheit« von Unterricht und Kompetenzorientierung, die »unterste Ebene«. Josef Leisen bezeichnet Aufgaben als »didaktische Alleskönner« und unterscheidet folgende Typen:

In einer breiten Definition lassen sich Aufgaben folglich als alles definieren, was Lernaktivitäten auslöst (Leisen: »Es gibt kein Lernen und kein Lehren ohne Aufgaben.«). Dann ist klar: Diese Auslöser sind die Basis von Unterricht, ohne sie gibt es kein Lernen. Die Frage nach dem Verzicht wäre eine sinnlose.
Deshalb wähle ich eine etwas engere Definition:
Aufgaben werden allgemein als Aufforderung oder Angebot zum Denken und Handeln verstanden, wobei sie Ziele und Inhalte des Unterrichts auf einer didaktischen Mikroebene konkretisieren.
Kleinknecht (2019)
Ich verstehe also Aufgaben als Handlung von Lehrenden, die
- Schüler*innen zu einer bestimmten Aktivität auffordern.
- Implizit oder explizit inhaltliche wie auch formale Normen zu dieser Aktivität enthalten.
Konzepte wie »Lernaufgaben« weichen den Punkt 2. auf – sie sind aber begrifflich und konzeptionell immer noch sehr stark mit der von Oelkers dargestellten Ideologie verbunden, dass Lehrende Aufgaben vorbereiten, besprechen und beurteilen. Mehr noch: Aufgaben implizieren, dass Lehrende Lernenden Wissen vorenthalten. (Das wirkt dann ganz massiv auf die Prüfungskultur zurück, die insbesondere auch Hochschulen prägt und in ihrer Entwicklung hemmt.)
Was bringt der Verzicht auf Aufgaben – und wie muss man sich das vorstellen?
Beutel und Xylander schreiben, Schulen brauchten Konzepte, die »in einer von großer Ungewissheit geprägten Lebenswirklichkeit aktuelle Schlüsselprobleme der globalisierten Welt als Lernanlässe aufnehmen. […] Dieser Lernbegriff muss zugleich die Fragen der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt rücken.« (S. 27f.)
Der Fokus auf die Eigentätigkeit von Lernenden und auf Lernanlässe, die sich an wesentlichen Problemen orientieren, ist eine der zentralen Begründungen, weshalb Unterricht von mehr oder weniger normierten Aufgaben abrücken soll.
Die andere liegt in der zeitgemäßen Wissenskultur: Wissen ist übers Netz zugänglich. Aufgaben, die darauf basieren, Wissen erst verzögert oder strukturiert zugänglich zu machen, stehen auf tönernen Füßen, sobald Schüler*innen mit Smartphones oder anderen Geräten im Netz arbeiten. Dann richtet sich enorm viel Energie im Unterricht darauf, zu verhindern, dass Lernende so arbeiten können, wie sie eigentlich arbeiten sollten: vernetzt.
Was passiert, wenn sich Schulen und Unterricht von Aufgaben in einem engen Sinn lösen? Sie fokussieren sie auf eine Kombination von Herausforderungen und Training.
Herausforderungen erwähnt Renate Girmes in ihrer Konzeption von Aufgaben – einer Konzeption, die davon ausgeht, dass Lernende sich Aufgaben stellen und sich auf Aufgaben beziehen, die sich ihnen stellen (danke für den Hinweis, Andreas Körber):
Individuelle Herausforderung bewirken Aufgaben: Aufgaben, die sie sich
Renate Girmes (2014): ,Allgemeine Didaktik‘ als Theorie der sich stellenden Aufgaben, S. 20
stellen und die sich ihnen stellen. Also geht es in Bildungsprozessen im
mehrfachen Wortsinn darum, sich Aufgaben zu stellen. Was sind Aufgaben?
Aufgaben sind gegenstandsbezogen und der Ausdruck für eine Lücke zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte, zwischen Bedingungen und Orientierungen; wird die Lücke empfunden bewirkt das bei den Aufgabenbearbeitern, dass sie das an Wissen und an Können, was ihnen zur Lösung der gesehenen Aufgabe nützlich sein könnte, auf ihre Aufgabe beziehen und dass sie das, was zur Lösung fehlt, zu finden oder zu entwickeln versuchen. Weil das so ist, sage ich: Alles Wissen und Können der Welt, nimmt Bezug auf Aufgaben.
Ich würde hier nicht mehr von Aufgaben sprechen, sondern von Problemen: Lernende arbeiten an Herausforderungen und Problemen, die sich ihnen stellen. Das ist aber nicht zentral: Entscheidend ist, wer Lernaktivitäten auswählt, anregt, beurteilt, in Sinnzusammenhänge einordnet – nämlich die Lernenden selbst.
Die Lehrenden schaffen Arrangements, in denen das Lernende mit hoher Qualität und Verbindlichkeit tun können. Und bieten Trainings für das an, was Girmes »Lücke« nennt: Wiederholungen basaler Aktivitäten, die dabei verbessert werden. Ganz analog zu Training im Sport.
Schulen, die Trainings anbieten und Lernende an Herausforderungen arbeiten lassen, arbeiten nachhaltiger. Sie werden sofort von Noten und Beurteilungen abrücken, werden Selektion und Vergleichbarkeit hinterfragen und problematische (Macht-)Strukturen abbauen. Aufgaben sind auf mehreren Ebenen ein Problem – es ist Zeit, an Alternativen zu denken.
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