Wie ich mich von der Seite gelöst habe

In Michel Serres Essay »Erfindet euch neu!« findet sich eine Beschreibung des Leitmedienwechsels, die mich stark beeindruckt hat, als ich sie vor schon einigen Jahren gelesen habe.

Serres verkündet im Essay das »Ende des Zeitalters des Wissens«. Wie in der Legende des heiligen Dionysus, der seinen abgeschlagenen Kopf wieder aufgesetzt und sich damit weiterbewegt hat, ist der Kopf als Computer oder Smartphone heute abgeschlagen, externalisiert.

Was aber tragen wir nach der Enthauptung noch auf unseren Schultern? Die erneuernde und lebendige Intuition. In die Büchse ausgelagert, entläßt uns die Bildung an die helle Erfindungsfreude. Großartig: Sind wir dazu verdammt, intelligent zu werden?

Die Leere, so Serres, sei eine Chance für einen Neubeginn, bei dem es Erfindungen gebe. Das Denken könne sich vom Buch und seiner Seite lösen. Die heutigen Werkzeuge, seien sie noch so digital, hätten sich aber noch nicht vom Diktat (oder eben: der Formatierung) der Seite gelöst. Das Zeitalter des Wissens ist das Zeitalter des Buches, schreibt Serres, die Elektronik habe sich aber vom Buch noch nicht befreit.

Seit ungefähr einem halben Jahr habe ich mich von der Seite gelöst. Das hat zwei Gründe:

  1. Alle Kurse, die ich unterrichte, arbeiten primär digital (d.h. alle Lernenden verwenden digitale Endgeräte und Lernplattformen).
  2. Ich höre sehr viele und lange Texte, das ist mein primärer Rezeptionsmodus für Literatur.

Der erste Grund hat dazu geführt, dass ich keine Blätter mehr layoute, was ich immer gern gemacht habe. Manchmal öffne ich fast aus Versehen ein Word-Dokument, nur um dann zu merken, dass ich den Kursgruppen nur noch Webpages zur Verfügung stelle, keine Arbeitsblätter mehr (Beispiel Uni, Beispiel Schule). Diese bette ich in Teams, Olat etc. ein – es gibt also Streams von Inhalten, die ständig überarbeitet, erneuert und mit Links angereichert werden.

Der zweite Grund führt dazu, dass ich Literatur gar nicht mehr primär über Seiten wahrnehme. Ich suche immer wieder Zitate, aber auch meine E-Books lese ich wenn immer möglichst seitenlos, d.h. in der Form eines kontinuierlichen Textstroms, wie ich ihn von Twitter kenne.

Natürlich publiziere ich weiterhin gedruckte Texte, die ohne Seiten nicht denkbar wären. Aber in meinem Unterricht brauche ich keine Seiten mehr.

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