Poker, Schach – und die Schule

Das hier abgebildete SAMR-Modell habe ich lange Zeit als Ideal verstanden: Wer Lerntechnologie einsetzt, kann unter günstigen Umständen von links nach rechts kommen; wird also etwa zuerst ein »Werkzeug« ersetzen, dann aber merken, dass damit andere Dinge möglich sind und so die Aufgaben neu gestalten oder neue entwickeln.

Tatsächlich – und darauf hat Axel schon früh hingewiesen – stecken im SAMR-Modell zwei Haltungen. Das lässt sich in Bezug auf Distanzunterricht gut zeigen: Wer Digitalität ernst nimmt, sieht Distanzunterricht als eine Möglichkeit, Schul- und Unterrichtsentwicklung zu betreiben. Diese Haltung führt zu einem Einstieg direkt bei »Modification«. Kolleg*innen, die so auf Digitalität blicken, werden nie etwas ersetzen, sondern von Anfang an neue Möglichkeiten erproben. Sie spüren, wie das Wasser zum Leitmedium wird.

Im Gegensatz dazu steht die Einstellung, digitale Ersatzhandlungen seien anstrengend und defizitär, es sei für Schulen, Lehrende und Lernende wünschbar, so schnell wie möglich in den angestammten Präsenzunterricht zurückzukehren. Wer so denkt, wünscht sich beim Rudern im Boot immer den Baumstamm zurück, weil sie nur die Luft als Medium kennen.

Wenn wir nun die erste Haltung als transformative bezeichnen und die zweite als Tradition als konservative, dann lässt sich ein Problem mit der konservativen Haltung an einem Blick auf die Entwicklungen in der Poker- und Schachszene zeigen.

Aus der konservativen Haltung könnte man sagen: Poker und Schach sind alte Spiele, die sich nicht verändern, wenn ein neues Leitmedium auftaucht. Wer gut Poker oder Schach spielen kann, kann in das unabhängig vom Medium.

Die letzten 30 Jahre zeigen jedoch deutlich, dass das nicht stimmt. Das hat mehrere Gründe:

  1. Poker und Schach werden von Programmen simuliert. Dadurch werden Strategien entdeckt, die für Menschen intuitiv irrational erscheinen, tatsächlich aber (nahezu) optimale Lösungen für die aktuellen Spielsituationen darstellen.
  2. Für Poker und Schach gibt es Lernsoftware, mit denen Lernprozesse anders als mit Trainer*innen ablaufen. Chess.com bietet etwa automatisierte Analysen an, die einem erlauben, Positionen noch einmal neu zu spielen und dabei die Bewertungen der Positionen einzublenden. Das Analysetool errechnet dabei gleichzeitig viele alternative Verläufe von Partien, was Menschen so nicht leisten könnten.
  3. Mit Hilfsprogrammen könn(t)en Menschen aller Spielklassen stärker spielen als ohne.
  4. Viele Menschen spielen Poker und Schach online. Das beschleunigt Spiele und erlaubt es, parallel an mehreren Spielen teilzunehmen. So entstehen neue Strategien (indem ich etwa beim Schach einen Zug schon eingebe, bevor meine Gegnerin gezogen hat und so der Eindruck entsteht, ich hätte einen Fehler gemacht). Diese Strategien, die sich zunächst aufs Online-Spiel beschränken, können auf allgemeine Spielsituationen adaptiert werden.

In Poker und Schach haben sich in den letzten Jahrzehnten Spieler*innen durchgesetzt, die intensiv mit Programmen geübt, gelernt und ihr Spiel verbessert haben. Phil Galfond ist ein eindrückliches Beispiel, da er zur ersten Generation von Spielern gehört, die Poker online gelernt haben, dann aber nicht mehr mit einer weiteren Generation mithalten konnte, welche Spiele von Programmen komplett durchrechnen ließen und so Strategien anwenden konnten, die auf den ersten Blick widersinnig anmuten, tatsächlich aber funktionieren.

In diesem Podcast wird die Geschichte von Galfond erzählt.

Schach bleibt Schach.
Poker bleibt Poker.
Beide Sätze stimmen nicht. Digitalität hat Schach verändert und sie hat Poker verändert. Nicht nur auf den höchsten Niveaus, auch bei Amateur-Spieler*innen und Noviz*innen.

Lernen bleibt Lernen.
Unterricht bleibt Unterricht.
Hier verhält es sich genau gleich. Man kann sich, wenn man davon ausgeht, Digitalität führe lediglich zu leicht anderen »Werkzeugen«, an der Vorstellung festhalten, dass sich eigentlich nichts Wesentliches ändere. Tatsächlich kommen aber heute schon Menschen an Schulen, die in digitalen Kontexten lernen und Unterrichtserfahrungen unter den Möglichkeiten der Digitalität gesammelt haben. Und die werden Schule nicht gewinnen, weil Schule kein Spiel wie Schach oder Poker ist. Sie werden aber andere Erfahrungen und andere Kompetenzen haben. Und sie werden nicht bereit sein, eine nicht-digitale Schule zu ertragen, wenn ihre wesentlichen Lernschritte im Netz erfolgt sind.

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