Probezeit ohne Prüfungen – wie ich Leistungen im gymnasialen Deutschunterricht erfasse

»Es gibt keine Prüfungen im Deutsch.« Dieser Satz stand über dem ersten Blatt, das meine zwei Probezeit-Klassen im August erhalten haben. Im Folgenden möchte ich kurz ausführen, weshalb ich diesen Weg gewählt habe und wie ich ihn gestaltet habe.

Was ist die Probezeit?

Im Kanton Zürich, in dem ich unterrichte, ist das erste Semester am Gymnasium eine zweite Selektionsstufe: Zugelassen werden Schüler*innen, welche eine Aufnahmeprüfung bestehen, definitiv aufgenommen werden sie aber erst, wenn sie die Probezeit mit Zeugnisnoten abschließen, welche den Anforderungen genügen. Ich arbeite an einem Kurzzeitgymnasium, die Schüler*innen absolvieren die Probezeit in ihrem 9. oder 10. Schuljahr, je nach Zeitpunkt ihres Übertritts.

In der Probezeit werden tendenziell mehr Prüfungen durchgeführt, um Schüler*innen früh eine Rückmeldung geben und die Notengebung gegen Rekurse schützen zu können.

Wie habe ich Noten gesetzt?

Meine Zeugnisnoten setzen sich aus fünf Einzelnoten zusammen, die ich mathematisch runde:

  1. 10 Aufträge (unten mehr dazu) führen zu einer doppelt zählenden Note.
  2. Ein mündlicher Leistungsnachweis (Vortrag, Vorbereitung einer Lektion etc.).
  3. Ein schriftlicher Leistungsnachweis.
  4. Noch ein schriftlicher Leistungsnachweis.
  5. Note für mündliche Mitarbeit, zählt doppelt.
Information für die Klassen, August 2020

Wie geht das ohne Prüfungen?

Von Christian Albrecht (der das im bald erscheinenden Band »Hybrides Lernen« ausführlich dargelegt hat) habe ich gelernt, dass sinnvolle Leistungsmessungen »take home« und »open media« sein sollen, also nicht künstlich Arbeitsorte und Zeiträume festgelegt werden sollen. Das passt insbesondere zu meinem Unterricht, als dass die beiden Klassen zu den ersten BYOD-Klassen dieser Schule gehören: Alle Schüler*innen haben im Unterricht einen Computer oder ein Tablet mit Tastatur dabei.

Die Idee ist, dass die Schüler*innen Arbeiten erledigen bzw. Lernprodukte herstellen, die direkt auf den Lernprozess und den Kontext des Unterrichts bezogen sind, aber dafür weder zeitlich noch medial eingeschränkt und unter Druck gesetzt werden. Größere Arbeiten (die beiden längeren Texte) habe ich im Unterricht vorbereitet und mit den Schüler*innen in einem Prozess entwickelt. Kleinere Arbeiten (Aufträge, vgl. unten) sind in die Arbeit im Unterricht eingebunden, sie ergeben sich aus Gesprächen in der Klasse und fließen in den weiteren Lernprozess ein. Beide sind also so gestaltet, dass Lernende zwar Hilfe von anderen Menschen beanspruchen können, diese aber ihre Arbeit nicht komplett erledigen können. »take home« und »open media« führt zu keinen Verzerrungen, die stärker wären, als Leistungsmessung ohnehin verzerrt ist. Auch bei klassischen Prüfungen haben die einen Schüler*innen Eltern und Geschwister, die sie darauf vorbereiten können – und andere nicht. Das Problem lässt sich in einem notenbasierten System nicht lösen.

Das dialogische System der Aufträge

Ich bin Anhänger des dialogischen Lernens (hier habe ich mein Verständnis erklärt). Die Aufträge sind eine Form, es in den BYOD-Unterricht einfließen zu lassen. Grundsätzlich geht es so: Agil ergibt sich aus dem Verlauf von Unterrichtssequenzen ein Thema, das ich gerne mit einem Auftrag vertiefen würde. Dafür gebe ich der Klasse dann eine bestimmte Zeit, in der sie ein Lernprodukt herstellt (oft während der Deutschstunden sowie zuhause). Ich gebe dazu Feedback und aggregiere Kernideen, die darin vorgebracht werden. Das bringt dann den Unterricht weiter.

Dialogisches Lernen.002

Konkret habe ich 11 Aufträge gestellt (ich wollte 10 stellen, der 11. führt zu einem Streichergebnis), die alle über Teams bearbeitet werden mussten. Ich habe dazu verbal Feedback gegeben sowie Punkte gegeben (1 Punkt = okay, 2 Punkte = besondere Sorgfalt in einem Aspekt, 3 Punkte = das ist ein Wurf, ein Gedanke, auf den ich nicht gekommen wäre, ein gestalterischer Einfall).

Zusammengezählt haben die 10 Aufträge zu einer doppelt zählenden Note geführt.

Die Themen habe ich hier zusammengestellt (pdf), ich habe bei beiden Klassen weitgehend unterschiedliche Themen behandelt (obwohl es sich um Parallelklassen handelt):

(wird mit einem Klick größer)
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Auswertung

Ich habe mit den Klassen intensiv über das System nachgedacht und Feedback-Runden durchgeführt. Die zentralen Rückmeldungen sind:

  1. Die Jugendlichen haben den Eindruck, mehr und nachhaltiger zu lernen als mit Prüfungen, wo sie schnell wieder vergessen.
  2. Die Anforderungen durch die Aufträge waren fordernd, teilweise entstand Stress, obwohl ich oft die Abgabefristen verlängert habe, wenn ich das bemerkt habe.
  3. Die Schüler*innen wünschen sich teilweise klarere Anleitungen, als ich sie geben will: Ich möchte Ihnen Freiheiten lassen bei Lernprodukten und verhindern, dass sie Vorgaben abarbeiten. Das bemerken die Klassen auch, dennoch spüren sie eine gewisse Verunsicherung: Sie würden gerne genauer wissen, wie sie gute Noten erhalten können.
  4. Feinheit der Bewertung: Das System mit 1-3 Punkte ist für mich sehr schnell. Ich weiß sofort, wie viele Punkte ich für einen Auftrag vergeben muss. Einige Schüler*innen wünschen sich halbe Punkte, was dann zu viel stärkeren Vergleichen führen würde. So könnte ich nicht pro Semester 10 Aufträge bewerten.
  5. Ein gutes Gefühl: Lese ich die Aufträge, interessiert mich immer, was und wie die Schüler*innen gearbeitet haben. Ich habe immer den Eindruck, es mit interessierten, klugen Jugendlichen zu tun haben. Korrigiere ich Prüfungen, sehe ich viel stärker das Defizit, ich vergleiche meine Erwartungen mit den Ergebnissen und bin fast immer enttäuscht über mich und die Schüler*innen. Bei Lernprodukten bin ich immer erstaunt über mich und die Schüler*innen. Das ist lernförderlich.
  6. Wir lernen gegenseitig: Ich lerne viel von den Schüler*innen und kann Themen mit ihnen gemeinsam entwickeln, statt starre Wissensbestände vorzugeben. Über die Lernprodukte haben die Schüler*innen einen direkten, wahrnehmbaren Einfluss auf den Unterricht.
  7. Ich bin zu fairen, klaren Noten gekommen – gestützt auf 13 Leistungsnachweise und eine Bewertung der mündlichen Mitarbeit. D

Entwicklung

Ich habe mir vorgenommen, die Aufträge in festgelegten, regelmäßigen Abständen durchzuführen und genauer zu besprechen, welche teilweise impliziten Qualitätskriterien ich bei der Bewertung anwende.

Mittelfristig würde ich gerne komplett von Noten wegkommen. Mein System ließe das zu: Ich könnte problemlos nur Feedback vergeben und keine Bewertung. Das hätte weder auf die Lernprozesse der Schüler*innen noch auf die Qualität des Unterrichts eine Auswirkung.

4 Kommentare

  1. Noten ganz weglassen? kann man sicher diskutieren, obwohl ich mich gegen Augenwischerei ausspreche! Bewertungen wird es immer geben! Was spricht gegen Gut, Klasse, Super, Toll gemacht?
    ich bin nach 40 Jahren Praxis auch bei 3 Punkten gelandet! Entspricht m.E. den Schulnoten Gut, Befriedigend, Ausreichend! Damit laesst sich prima arbeiten! Herzliche Gruesse aus Australien yours p h bloecker

  2. Marco sagt:

    Was hält dich davon ab, Noten ganz wegzulassen, wenn du schreibst, dass du sie weglassen könntest?

    > Mittelfristig würde ich gerne komplett von Noten wegkommen. Mein System ließe das zu: Ich könnte problemlos nur Feedback vergeben und keine Bewertung. Das hätte weder auf die Lernprozesse der Schüler*innen noch auf die Qualität des Unterrichts eine Auswirkung.

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