Politik in einer Kultur der Digitalität: Beschleunigung und 4K

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Heute habe ich in der NZZ am Sonntag einen Artikel (möglicherweise Paywall) gelesen, in dem nachgezeichnet wird, wie Wissenschaftler in der Schweiz recht früh vor einer drohenden Pandemie gewarnt haben, aber politisch zu wenig Gehör fanden.

Im Artikel heißt es:

Hätte es nicht Gelegenheit gegeben für das BAG, externe Forscher und Kritiker an Bord zu holen? Koch und das BAG wollen die Deutungshoheit behalten. Eine Sprecherin erklärt, das Bundesamt stütze seine Arbeit immer auf wissenschaftliche Publikationen und Ergebnisse. Doch Althaus und Salathé fühlen sich ungehört. Nur: Sie gehören nicht mehr zu der Generation Forscher, die Ruhe geben. Sie haben beide bedeutende Gefolgschaften auf Twitter. Und diese nutzen sie fortan. Sie üben scharfe Kritik an Bund und Beamten. Sie sind überzeugt: Ab jetzt geht es um alles.

[…]

Christian Althaus und Marcel Salathé werden nervös. Ende Februar verlagern sie ihre Diskussion auf Slack, einen Nachrichtendienst, mit dem Geschäftsleute heute ihre Business-Talks abhalten. Und sie laden weitere Forscher dazu ein. Sie, die Fastmover unter den Schweizer Wissenschaftern, glauben, die Experten müssten sich nun gezielt austauschen. Sie sehen die Pandemie als Wettkampf gegen die Zeit. Aus ihrer Sicht müssen rasch einschneidende Massnahmen ergriffen und die Bevölkerung gewarnt werden. Warum koordiniert das niemand?, fragt sich Salathé. Dann koordinieren sie sich halt selbst.

Hier wird deutlich, dass Althaus und Salathé die Kultur der Digitalität leben und verstanden haben. Was heißt das konkret?

  1. Sie informieren sich auf digitalen Kanälen direkt bei Expertinnen und Experten, bevor diese ihre Ergebnisse in den teilweise langsamen wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichen können.
  2. Sie vernetzen sich mit Forschenden jenseits etablierter Hierarchien.
  3. Sie kommunizieren direkt mit einer interessierten Öffentlichkeit.
  4. Sie nutzen digitale Plattformen für eine schnelle, fokussierte Kooperation.
  5. Sie lösen sich aus institutionellen Abhängigkeiten, wenn ihnen das sinnvoll erscheint.
  6. Sie arbeiten generell schneller und fokussierter als das üblich ist.
  7. Ihre Arbeit orientiert sich an den 4K: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken.

Der Artikel suggeriert, die Vorgehensweise von Salathé und Althaus sei in Bezug auf die Pandemie sinnvoller gewesen. In der Schweiz wird immer wieder betont, die Trägheit demokratischer Institutionen führe zu Sicherheit und demokratischer Akzeptanz: Weil Gesetze und Beschlüsse nicht innert Tagen gefällt werden können, stimmt ihre Qualität.

Corona legt aber zumindest nahe, dass die Politik zwei Modi kennen sollten: Einen schnellen, vernetzten, digitalen, dynamischen. Und einen sicheren, umfassenden, soliden.

Die beiden Modi kennen aber unterschiedliche Hierarchien und Beteiligungsformen: Der digitale Modus beteiligt alle, die etwas beitragen können. Er lässt Kritik zu, kennt aber auch Filter. Gleichwohl findet vieles offen statt. Sichtbar wurde das im Umgang mit den Daten: Nach Kritik an der Datenerfassung des Bundes (ganz prominent von Adrienne Fichter auf Twitter und bei der Republik formuliert), hat Daniel Probst mit anderen Zusammen offene Datenquellen aggregiert und ausgewertet.

Ein Fachmann für den Umgang mit Daten hilft den offiziellen (und bezahlten) Verantwortlichen, offene Daten auszuwerten und wieder offen darzustellen, eine Journalistin übt Kritik und macht Expertise sichtbar.

Gleichzeitig lässt der langsame, sichere Modus nur angestellte, gewählte oder angefragte Personen zu Wort kommen, er kennt etablierte Formen der Kommunikation und der Kritik und ist nicht offen. Publiziert werden Dinge nur, wenn das abgesegnet wurde.

Was die Corona-Krise nun zeigt, ist aus meiner Sicht, dass auch Entscheidungen teilweise schnell gefällt werden müssen, im digitalen Modus. Dazu ist die Politik aber kaum in der Lage, weil sie selten im schnellen Modus arbeitet und deshalb nicht damit vertraut ist. Auf die Bildungspolitik bezogen: Neue Lehrpläne müssen sorgfältig evaluiert, diskutiert, demokratisch legitimiert werden. Aber die Frage, ob und wie Abschlussprüfungen durchgeführt werden oder unter welchen Bedingungen Schulen nach dem Lockdown wieder Präsenzunterricht anbieten – beides sollte in offenen, schnellen Prozessen diskutiert und entschieden werden.

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