Dejan Mihajlovic hat »zeitgemäße Bildung« wie folgt definiert:
Zeitgemäße Bildung orientiert und reflektiert sich immer wieder neu an allen Herausforderungen gesellschaftlicher Entwicklung, die aus dem digitalen Wandel resultieren. Sie sucht in einem neuen Lehr- und Lernverständnis nach Antworten auf alle Fragen, die sich [aus der Transformation der Gesellschaft] ergeben.
Aus dieser Konzeption der zeitgemäßen Bildung lassen sich einige einfache Konsequenzen ableiten:
- Zeitgemäße Medien- und Wissensformen für Bildungsprozesse nutzen.
- Aktuelle Ereignisse und unterschiedliche Perspektiven darauf als Ausgangspunkt für Lehren und Lernen betrachten.
- Lernen als eine Auseinandersetzung mit Gesellschaft denken.
Wer sich in einem institutionellen Bildungsumfeld dafür einsetzt, stößt auf Widerstand. Dieser Widerstand hat sich in den letzten Jahren verdoppelt, wie ich gleich zeigen werde (diese Einsicht geht auch auf Dejan Mihajlovic zurück).
Ein erster Widerstand für die Bewegung für zeitgemäße Bildung bilden diejenigen Personen, welche am bestehenden Bildungssystem festhalten und es bewahren wollen. Sie fragen nach einem »Mehrwert« der Veränderung, um sie so als absurd und unnötig erscheinen zulassen. Sie stellen vielfältige rechtliche Bedenken in den Raum und finden weitere Verhinderungsdiskurse, um durch eine permanente Zermürbung der Bewegung ihre Kraft zu nehmen. Mit der »Bleistift-Metapher« gesprochen handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen der Spitze und den Scharfsinnigen gegen die Muffen und die Radierer.
Der zweite Widerstand wächst aus einer Gruppe, die sich ebenfalls als Spitze und Scharfsinnige bezeichnen würde. Es sind digital innovative Lehrkräfte, die eine breite Palette von Tools in ihrem Unterricht nutzen. Sie tun das aus anderen Motiven: Sie werden dadurch effizienter in ihrer Lehre, können ihren Unterricht auf Daten abstützen und eine Art Pionierstatus beanspruchen, der sie auch für Kooperationen mit Digitalunternehmen (oder solchen, die das gerne wären) in eine günstige Position bringt.
Diese doppelte Auseinandersetzung habe ich in der folgenden Übersicht zu verdeutlichen versucht: Wer sich für zeitgemäße Bildung einsetzt, verfolgt die Idee einer persönlichen Bildung, in welcher Menschen (in ihrer gesellschaftlichen Rolle) im Mittelpunkt stehen, sie sind alleiniger Zweck der Bildung. Menschen sollen befähigt werden, Gesellschaft nach ihren mündigen Vorstellungen zu gestalten.
Dieses Ideal grenzt sich nach links von traditionellen Vorstellungen: Darin werden junge Menschen durch Schule geformt, erhalten in Fächern bestimmte Wissenskulturen beigebracht und Werte übergestülpt, die sie in einer bereits bestehenden Vorstellung zu mündigen Mitgliedern der Gesellschaft machen könnte.
Rechts fordert die personalisierte Bildung (gemeint ist damit der Anschein von Personalisierung durch Algorithmen), Menschen spielerisch so zu entwickeln, dass sie produktiv werden.
Wir können das an einem Beispiel verdeutlichen: Traditionelle Bildung sieht »Fridays for Future« als problematisch an, weil Jugendliche Schulstoffe und Schulbildung verpassen. Persönliche Bildung begrüßt, dass Jugendliche Verantwortung übernehmen und politisch aktiv werden, dass sie ihren Vorstellungen entsprechend handeln. Personalisierte Bildung organisiert ein Crowdfunding, um im Olympia-Stadion einen Event mit Millionenbudget durchführen zu können.
Was passiert nun, wenn diese doppelte Auseinandersetzung Schulen und die Bildungspolitik erreicht? Es entsteht ein Kampf und die Deutungshoheit, um die Entscheidungskompetenz. Irgendwann erschöpft sich die Verzögerungstaktik der »traditionellen Bildung«, die verlangt, dass Geld erst dann für digitale Projekte ausgegeben werden kann, wenn alle Konzepte geschrieben, genehmigt, überarbeitet und noch einmal genehmigt sind. Dabei können immer wieder andere Bedenkenträger*innen fragen, ob man das vielleicht nicht auch lassen könnte, zumal in Südkorea die Kinder ja mittlerweile alle in Klinken lebten, weil sie so süchtig nach ihren Handy geworden seien.
Ist diese Diskussion ausgestanden, geht es darum, wie eine Veränderung letztlich gestaltet werden könnte. Die personalisierte Bildung hat schnell Vorschläge: Tolle Tools, neue Geräte, Plattformen und Gamification. Der Unterricht wird zum Computerspiel, eine Schule zum Startup. Jetzt müssen die Vertreterinnen und Vertreter der zeitgemäßen Bildung differenzieren: Was für pädagogische Vorstellungen stecken denn letztlich hinter dieser Toolifizierung? Sind das sinnvolle Lernprojekte oder sehen sie nur so aus? Sind Lehrvideos und Multiple-Choice-Tools wirklich innovativ?
An diesem Punkt sind wir angelangt. Nun ist eine doppelte Auseinandersetzung nötig. Differenzierung ist anstrengend, sie bremst und stellt zuerst die Frage, welche Ziele erreicht werden sollen, bevor irgendwas getan werden kann.
Als letztes Beispiel füge ich »agile Didaktik« an. Ich habe letzte Woche an der PH Freiburg eine Einführung in die agile Didaktik vorgestellt. Grundsätzlich geht es darum, Settings den Menschen anzupassen, die lernen. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, verschiedene Perspektiven einzubringen. Das geht nicht besonders gut, wenn Lernumgebungen starr geplant sind. »Agile Didaktik« ist der Gegenbegriff zu »Plandidaktik«.
Nun werden aber im Schulkontext alle möglichen Dinge als »agil« und »agile Didaktik« verkauft, auch wenn sie mit dieser Kernvorstellung nichts zu tun haben. »Personalisierte Bildung« ist so aufgestellt, dass sie Begrifflichkeiten leicht adaptieren kann, um den Anschein zu erwecken, etwas wirklich Neues zu tun – auch wenn es nur darum geht, überholte Vorstellungen im digitalen Gewand neu zu verkaufen.
Womöglich sind genaueren Unterscheidung auch die Begriffe selbstgesteuertes und autonomes Lernen hilfreich. Das was Du als personalisierte Bildung beschreibst hat in jedem Fall einige Parallen zum selbstgesteuerten Lernen, die personale Bildung zum Autonomen Lernen (siehe Blog-Beitrag von Carsten Roeger unter https://bildungsluecken.net/453-selbstaendiges-lernen-selbgesteuert-ist-nicht-autonom ) Oder was meinst Du?
Sehr treffend zugespitzt, chapeau! Drei Anmerkungen habe ich allerdings:
1. Die Dejan zugeschriebene Beobachtung, der Widerstand habe sich in Gestalt der „Bildungspersonalisierer“ neuerdings verdoppelt, kann ich nicht nachvollziehen. Nach meiner Beobachtung gab es die schon immer. Was zugenommen hat (und weiter zunimmt), ist ihr Einfluss auf Entscheidungsprozesse. Dieser Machtzuwachs hat meiner Meinung nach viel zu tun mit
2. nach deiner Frage von den pädagogischen Vorstellungen der „Bildungspersonalisierer“. Die pädagogische Vorstellung von der positiven Wirkung von „Lerninstrumenten“ ist nun auch nicht erst mit der von dir genannten Toolifizierung in die Welt gekommen (Axel Krommer erinnert ja gern an die „Skinner-Maschine“). Mir fällt allerdings auf, dass der Einfluss dieser Gruppe in dem Maße wächst, wie deren Tools ökonomisiert werden. Plötzlich geht es um sehr viel Geld.
3. Schließlich stoße ich mich an deiner Ineinssetzung von starr geplanten Lernumgebungen mit „Plandidaktik“ (die Anführungszeichen setzt du selbst; ist das Wort deine Schöpfung?) Sofern die Lernumgebung nach curricularen Vorgaben entwickelt wurde, ist Rahmengebung wohl eine ihrer Aufgaben, was je nach Perspektive sowohl als einengende Starre als auch als Möglichkeit der Orientierung gesehen werden kann. Bedeutsamer scheint mir zu sein, welche Freiheitsgrade dem Lernenden in dieser Umgebung ermöglicht werden. Wor diesem Hintergrund kann ich keinen Sinn darin sehen, alle Algorithmen über einen Kamm zu scheren.