Aus meinem Unterricht: Werther-Snarks

Dieser Beitrag ist in einer überarbeiteten Version im Juni 2020 im Schulblatt AG/SO erschienen. 

Eines der Bücher, die mich bei der Beschäftigung mit digitalen Medien im Deutschunterricht stark beeinflusst haben, ist Porombkas Schreiben unter Strom (Duden, 2012). In einem Kapitel stellt Porombka einen Zugang zur Werther-Lektüre vor. Er schreibt:

Der »Werther« führt zugleich noch etwas anderes, vielleicht ganz Aktuelles vor. Denn Goethe lässt seinen Helden nicht nur die produktive Kraft der neuen Briefkultur spüren. Er zeigt zugleich ihre unheimliche Destruktivität. Denn der empfindsame Fluss, den der Briefschreiber in Gang setzt, ist einer, der ihn fortreißen wird. Die Dramaturgie ist eine der gesteigerten Verinnerlichung. Brief für Brief entwickelt Goethe eine Geschichte, in der sich die Gefühlswelt des Schreibenden langsam, aber sicher aufheizt und schließlich so abschließt, dass sie von innen her unter Hochdruck gerät. Am Ende kennt das Ich kein Du mehr. Werther schreibt nur für sich allein, ohne noch auf die Antwort zu warten. Die letzte Antwort gibt er sich schließlich selbst: […] in der Form der Kugel. (S. 67)

Werther ist ein Text, der als Lektüreerfahrung immer noch gut funktioniert. Er enthält die Frage, wie die Geschichte in einem ständig zu aktualisierenden »Heute« erzählt werden müsste.

Im letzten Semester habe ich mit einer Klasse etwa Auszüge aus Franziska Walthers Graphic-Novel-Adaption »Werther Reloaded« von 2016 gelesen. Darin lebt Werther als Art Director in New York und benutzt Instagram für die Kommunikation.

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Begleitend zur Lektüre des Originaltexts und der Adaption haben die Schülerinnen und Schüler eine neue Form der Adaption ausprobiert. Die Grundidee dazu habe ich kürzlich in einem Aufsatz formuliert (er ist noch nicht erschienen):

Im Übertragungsprozess in alltagssprachlich vertraute mediale Praktiken müssen diese auf ihre Tragfähigkeit für literarische und tiefgründige Botschaften geprüft werden. Welche Emojis würde Goethe heute einsetzen, wenn er Werther schriebe? Die Frage klingt trivialer, als sie ist – sie bedingt beispielsweise eine Einschätzung des Verhältnisses des Romans zu zeitgenössischen Kommunikationsnormen und eine Reflexion der Kommunikationserwartungen der Leserinnen und Leser.

Meine Idee basiert auf dem Blogsnark-Reddit. Ein Snark-Text ist ein spöttischer Kommentar. Snarks werden aktuell zu Influencerinnen und Influencern geschrieben. Was sie auf ihren Blogs, auf Youtube oder Instagram veröffentlichen, wird so zusammengefasst, dass sich die Community darüber amüsieren kann. Entscheidend ist dabei, die scheinbar mächtigen und attraktiven Vorbilder etwas lächerlich zu machen.

Die Schülerinnen und Schüler (11. Klasse Gymnasium) haben jeweils einen Brief in einem Snark zusammengefasst. Damit war die Haltung vorgegeben, Werther nicht zu ernst zu nehmen, ihn als eine Rolle zu betrachten, die auch kritisiert werden kann. Mein Ziel war, so die Lernenden erfahren zu lassen, wie selbstbezogen Werther schreibt. Gleichzeitig musste sie aber erst einmal verstehen, was im Brief steht, sie haben intensiv mit Worterklärungen und Kommentaren in der Reclam-XL-Ausgabe gearbeitet.

In einem Arbeitsblatt habe ich die Anforderungen an die kurzen Texte (50 bis 100 Wörter) wie folgt beschreiben:

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Gesammelt haben wir die Snarks auf einem Padlet:

 

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