Wer über digitale Kommunikation nachdenkt, kann das selten ohne Nostalgie. Aktuelle, neue Formen der Interaktion lösen andere ab, die so emotional anders besetzt werden.
Briefpost und die Handschrift sind davon momentan stark betroffen. Gestern traf ich mich zu einer Besprechung in der Altstadt Zürichs und habe dieses Schild entdeckt.
Seine Botschaft impliziert, dass es eine Trendwende gebe. Weshalb sollte ich also einen Brief schreiben, statt eine E-Mail oder eine Chat-Nachricht?
Weil das stärker wirkt, wäre wohl die einfache Antwort. Aus nahliegenden Gründen behauptet das die Post in der NZZ, welche diese These kritiklos abdruckt. Im persönlichen Kontakt gelten handgeschriebene Briefe aber als Zeichen starker Emotionalität, als echte Zuwendung.
Diese Intimität hat aber direkt nichts mit Handschrift oder Briefpost zu tun. Digitale Kommunikation ermöglich es genau so, persönlich und mit hohem Aufwand zu kommunizieren (indem man z.B. für eine Person permanent erreichbar ist, ihr lange Nachrichten schickt etc.).
Hingen die Emotionen vom konkreten Schreib- oder Sendeverfahren, so müsste es gleichzeitig auch als Manipulationsstrategie verstanden werden: Genau so wie Werbung halt gemäß den Angaben der Post besser wirkt, wenn sie per Post verschickt wird, wirkt eine emotionale Botschaft handgeschrieben stärker. Nicht, weil sie ist es ist – sondern weil ich als Empfänger sie so lese.
Mir gefallen einige handgeschriebene Texte, andere nicht. Ich erhalte gern persönliche Briefe, auch wenn ich sonst Briefpost eher als lästig empfinde. Aber ich halte wenig von ihrer Überhöhung. Es sind Kommunikationsformen, die nicht per se überlegen sind, sondern sich historisch in einer bestimmen Phase angeboten haben und heute weniger attraktiv geworden sind.
das eigentliche argument für die handschrift, das mitnotieren im unterricht, ist die neurologisch bessere verarbeitung des geschriebenen. vergleichbar ist das wie mit der beobachtenden zeichnung und einem foto oder das abzeichnen eines fotos. auch das begreifen von beispielsweise anatomie ist mit gezeichneten vorlagen wesentlich einfacher als mit fotografien. ich habe täglich mit jungen digital natives zu tun, die echte erkenntnissprünge erleben, wenn ihnen die „faulen“ digitalen hilfsmittel entzogen werden. ein entscheidender faktor für den sinnvollen einsatz von handgeschriebenen ist natürlich zeit! eine zügige und einigermaßen ästhetische handschrift zu erlernen kosten zeit und die anwendung (im unterricht) nimmt auch mehr zeit in anspruch, als ein pdf zu verschicken oder arbeitsblätter auszuteilen. und echte post hat jeder gerne!
Ich finde, man kann die Handschrift in ihrer Wirkung nicht isolieren vom Medium/Gerät. Denn wenn Leute Mails in Kursivschrift schreiben, wirkt das ja eher peinlich. Man merkt dann die Absicht, und es ist ein Als-Ob, eine so nicht funktionierende persönliche Ansprache. In der Werbung ekelt es einen direkt dabei.
Ich habe vor 40 Jahren mit meinem Vater in langen maschinengeschriebenen Briefen diskutiert, die mit der gelben Post hin und her gingen. Ich habe sie noch lange in dicken Ordnern aufgehoben. Meine Kinder schicken mir seit Jahren von all ihren Reisen rund um die Welt Postkarten, die ich sammle. Es ist nicht die Handschrift, aber auch nicht der Text („content“) allein, die eine Rolle dabei spielen, die mitgeteilten Informationen zu einer Botschaft zu machen. Es ist auch die Auswahl der Karte oder das Papier, die Sorgfalt des Arrangements und eben manchmal auch der physische Gegenstand, der das Geschenk „Ich hab an dich gedacht“ repräsentiert. Einmal bekam ich eine Karte mit arrangierten Fotos des Sohnes vor irischer Landschaft, digital hergestellt und auf der Rückseite digital betextet. Die wirkte genauso gut wie eine handgeschriebene und passte selbstverständlich genauso in die Sammlung.
Um die Jahrtausendwende habe ich mit einem Freund jahrelange irrsinnig lange Mailgespräche geführt. Am Anfang druckte ich sie aus, um sie in seiner Abwesenheit sehen und in die Hand nehmen zu können. Es war ein Übergang. Diesen Übergang muss wohl jeder Einzelne für sich schaffen beim Medienumbruch. (Das Ausdrucken und in einem Leitz-Ordner sammeln ist wie der Teddybär, der für das Kind als „Übergangsobjekt“ fungiert.)
Ich denke, die Leute mit dem Handschrift-Nostalgiesyndrom meinen eigentlich das ganze Paket: Das Geschenk der Zuwendung, fühlbar, sichtbar, erlebbar. Es hängt nicht an der Handschrift, die ist eine falsche Chiffre dafür. Aber das Bedürfnis dahinter ist echt und muss in aktuellen Medienformen seinen Platz finden. Die rechten Formen dafür kann man erst entdecken, wenn man sie nicht auf die Ebene Handschrift – Maschinenschrift reduziert.
Hinsichtlich meiner Enkel bin ich eigentlich ganz glücklich, dass sie im „selber-glismeten“ Prenzlberg aufwachsen – halt so nostalgisch mit Handschrift und iPhone und so.
Es handelt sich ganz deutlich um eine bewusste Überhöhung, man spielt hier mit der altbekannten Auratisierung des Alten, Schwindenden, beinahe schon Vergessenen. Vintage-Wahn und Shabby-Chiceria zeugen ja davon, dass nostalgische Verklärung ein gutes Verkaufsargument abgibt, das passt ja auch zur heutigen Ausrichtung der NZZ, #memberberries lassen grüssen 😉
Glücklicherweise geben nicht nur die Ergebnisse der Neuro- und Kognitionswissenschaften der Handschrift Auftrieb, sondern auch die Tech-Trends. Welcher Surface-User geniesst z.Z. nicht die neidischen Blicke der Apple-Jüngerschaft? Auch in meinen BYOD-Klassen geht der Trend deutlich in Richtung Convertibles, woraus sich meines Erachtens ein weiterer Vorteil für den Unterricht ergibt: Der Bildschirm kann sich von der (zuweilen) „störenden Wand“ problemlos zum unauffälligen Notizblock wandeln… Damit wird BYOD auch für Old-School-LuLs plötzlich attraktiver. Gerade dank diesem neuen Einher (statt Neben- oder gar Gegeneinander) von Handschrift und Compi kommen wir doch auch der hier gepredigten Zukunft des Unterrichts bzw. der Schulen einen grossen Schritt näher. Deshalb sollten auch wir, die nicht rückwärtsgewandt in die Zukunft wandeln, Nostalgie für unsere Zwecke geschickter zu verstehen wissen.
Ich bin ganz scharf auf ein iPad pro. Ich schreibe auch wahnsinnig gerne mit der Hand in meine gedruckten Bücher hinein. Trotzdem halte ich, was viele „Neuros“ und Grundschullehrer behaupten, dass man nämlich kursive verbundene Schreibschrift lernen müsse, damit das Hirn „die richtigen Kreise zieht“ und denken lernen kann, für Müll. Man muss nur schnell schreiben können. Das kann man auch auf Tastatur und mit Handblockschrift. Alles Wissenswerte und die entsprechende Literatur dazu findet man bei Beat Döbeli.
Ich denke hinter handgeschriebenen Texten steckt mehr als nur Emotionalität. Wir befassen uns intensiv mit der Formulierung, reflektieren eventuell mehr unsere Worte, da sie eben nun mal geschrieben sind und nicht wie heute in vielen Messengerdiensten gelöscht werden können. Zudem bin ich immer noch der Auffassung, dass man über das handgeschriebene Wort eine Menge über einen Menschen erfahren kann.
«Mir gefallen einige handgeschriebene Texte… Aber ich halte wenig von ihrer Überhöhung.» Es geht nicht um Überhöhung, sondern allenfalls auch darum, dass handschriftliches Schreiben andere Hirnregionen anregt als das Tippen auf einer Tastatur; dies behauptet die aktuelle neurologische Forschung, wie ich auch lese.