[Rezension] Pörksen: Die große Gereiztheit

Programm und Methode von Bernhard Pörksens neuem Essay lassen sich am Titel und Untertitel ablesen: »Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung«. Vorgelegt werden uns also eine Diagnose sowie ein Rezept – und zwar »anschaulich formuliert«, wie der Autor das ausdrückt. Pörksen kann so sprechen und schreiben, dass Zusammenhänge klarer werden und in Wendungen so auf den Punkt gebracht werden, dass englische Hilfsbegriffe schnell entfallen. Die umständlichen Wendungen rund um »Confirmation Bias« etwa, deutsch meist mit Bestätigungsfehler übersetzt, werden bei Pörksen zu »Bestätigungsdenken«; für »context collapse«, bei Passig mit »Kontextfusion« übertragen, verwendet Pörksen schärfer »Kontextverletzung«.

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Weil also Pörksen selbst treffend erklärt, worum es in seinem Buch geht, lohnt sich eine ausführliche Zusammenfassung an dieser Stelle nicht – mit mehr Gewinn liest man die aktuell erscheinenden Interviews, etwa in der NZZ oder beim Deutschlandfunk. Im Folgenden werde ich den pädagogischen Aspekt seines Buches ausführlicher besprechen und auf den Rest nur en passant verweisen.

Da ich mich momentan in der Sketchnote-Technik übe, habe ich eine Sketchnote als Zusammenfassung gezeichnet. Darauf wird deutlich, wie die »konkrete Utopie einer redaktionellen Gesellschaft« bei Pörksen positioniert ist: Sie ist es, die uns den Weg aus der Gereiztheit weisen soll.

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Die redaktionelle Gesellschaft ist eine Antwort auf die Frage der Orientierung in der digitalen Gesellschaft: Pörksen versteht sie als »Wertegerüst«, als »Leitziel, das dem demokratischen Ideal der Mündigkeit angemessen ist« sowie als »Bildungsziel für die digitale Moderne« (189). Sieben Prinzipien sind es, die der Gesellschaft erlauben, »auf eine möglichst direkte, schonungslose und wahrheitsorientierte Art [sich] selbst zu beschreiben« und »ihre vielschichtigen und verstreuten Interessen zu sortieren und auszudrücken« (190):

  1. Wahrheitsorientierung
  2. Skepsis
  3. Verständigungs- und Diskursorientierung
  4. Relevanz und Proportionalität
  5. Kritik und Kontrolle
  6. ethisch-moralische Abwägung
  7. Transparenz

Diese Prinzipien werden in der entworfenen Utopie auf drei Arten umgesetzt: Durch dialogischen Journalismus, verantwortungsbewusste Plattformen sowie durch ein neues Schulfach.

Die Idee, einem Problem mit einem Schulfach zu begegnen, ist nicht besonders originell. Mit den verschiedenen Vorschlägen lassen sich ganze Listen füllen: Von Schach über Glück bis hin zu Pornografie. Was Pörksen vorschlägt, ist aber in Bezug auf die medienpädagogische Debatte anregend: Er bemängelt, die im Rahmen der Digitalisierung entworfenen »Didaktik- und Medienkompetenz-Programme« seien »zu mickrig geträumt« (21).

Das vorgeschlagene Fach bezeichnet der Autor als »Labor«, in dem es um »Medienmündigkeit« gehe. Der pädagogische Grundauftrag:

Die Vernetzung und Digitalisierung in ihren persönlichen und gesellschaftlichen Folgen zu durchdenken, sie mit Blick auf die soziale Umwelt und die eigene kognitive Innenwelt zu begreifen, ihre Sozialverträglichkeit zu debattieren […] (206)

Das Fach sei interdisziplinär zu strukturieren (philosophische Ethik, Sozialpsychologie, Medienwissenschaft und Informatik) und könnte folgendem Plan folgen:

  1. Entstehungsgeschichte der digitalen Welt
  2. Machtanalyse der digitalen Welt
  3. angewandte Irrtumswissenschaft (also Entstehung von Wissen, Wahrnehmungspsychologie, Denkverzerrungen)
  4. Praxis des Mediengebrauchs in der digitalen Welt.

Übergeordnetes Ziel wäre »ein neues Verständnis der öffentlichen Sphäre […] als dem geistigen Lebensraum einer Gesellschaft, der […] geschützt werden muss« (208).

Vor drei Jahren durfte ich ein neues Schulfach an der Kantonsschule Wettingen einführen: »Die digitale Gesellschaft und ihre Medien« heißt es. (Mittlerweile begleite ich es leider nicht mehr, weil ich die Schule gewechselt habe.) Von diesen Erfahrungen aus würde ich Pörksens Konzeption vom Kopf auf die Füße stellen: Der Mediengebrauch kommt vor der Analyse, der Psychologie und der Historisierung der Digitalisierung. Einfallstor für Medienmündigkeit ist reflektierte, experimentelle Praxis. Das Labor eines Schulfachs – mit dieser Metapher trifft Pörksen einen relevanten Punkt – sollte zunächst Erfahrungen ermöglichen. Analysen können an konkreten Fällen wie den von ihm im Buch vorgestellten Skandalen festgemacht werden – im besseren Fall sind es jedoch etwas weniger krasse, ambivalentere Fälle aus dem Umfeld der Kinder oder Jugendlichen, an denen sich auch positive Effekte der digitalen Kommunikation festmachen lassen. Trotz aller konstruktiven Haltung fehlen die im Essay leider.

Zum vorgeschlagenen interdisziplinären Setting treten sicher auch Kommunikation und Ästhetik hinzu, vielleicht allgemeiner auch Kulturwissenschaft, Memetik. Und so gäbe es viele Bemerkungen an die vier Seiten im Buch anzuschließen, in denen das neue Fach entworfen wird. Letztlich wünsche ich der Bildungspolitik den Mut, so groß zu träumen, wie das Pörksen tut – und den Verantwortlichen für die Umsetzung die Bereitschaft, Fächergrenzen zu sprengen und nicht ein Pflichtfach Informatik an die Stelle eines Faches zu stellen, in dem es darum geht, wie Wahrheit erzeugt, wahrgenommen, verbreitet und verfälscht wird. Wer heute eine Schule besucht, braucht Medienmündigkeit und Informatik als Fächer.

(Der Autor hat mir das Buch geschenkt.)

6 Kommentare

  1. „Einfallstor für Medienmündigkeit ist reflektierte, experimentelle Praxis.“ heißt für mich im Grunde: ohne Sensorik kein Lernen. Insofern trage ich auch das Füße/Kopf-Argument (eben nicht als hierarchisches Bild irgendeiner Art – das eine kann ohne das andere nicht). ‚Medien‘ dann aber bitte weit gedacht, also informatische Mündigkeit einschließend.
    Und damit böte sich mE auch mehr Anschlußfähigkeit mit Wirtschaft in Schule: Felder für experimentelle Praxis aller Art liefern, deren Reflektion von Pädagogen begleitet wird.
    Das wiederum erfordert aber auch das Verstehen der Technik für Praxis, sonst erfolgt die Reflektion nur auf Basis eigener unvollständiger Praxis.

  2. Stefan Forrer sagt:

    Vielen Dank für die Auslegung. Ich finde es sehr anregend. Ich frage mich inwiefern das „Auf-den-Kopf-stellen“ davon abhängt auf welcher Seite man (Medium/Benutzer) die aktive und wo die passive Rolle definiert. Wird diese Frage unter Punkt 5. Kritik und Kontrolle angesprochen? Um das Beispiel des Schwimmens aufzunehmen: schwimme ich tatsächlich oder werde ich getrieben?

    1. Schöne Differenzierung, Stefan. Pörksen geht darauf meines Wissens nicht explizit, aber schon implizit ein. Das Unterrichtssetting müsste wohl dafür sorgen, dass das Wasser möglichst ruhig steht… 

      1. Stefan Forrer sagt:

        Ich habe mir gedacht, dass, sollte ich tatsächlich getrieben werden, die Aufklärung darüber ganz im Sinne Pörksen wäre. Meine Umgebung würde mir verständlicher und auch mein Zustand. Die Umdrehung legt meines Erachtens den Fokus stärker auf die Tätigkeit des Schwimmens selbst und hilft dieses zu verbessern, so dass möglicherweise auch gegen den Strom geschwommen werden kann, bildet also eine Mündigkeit durch Handeln aus.
        Wenn du das Wasser zur Ruhe bringst, richtest du dann nicht zu sehr den Fokus auf das Handeln an sich? Respektive: Besteht nicht eine untrennbare Verknüpfung der beiden Ebenen?

  3. @byland sagt:

    „Von diesen Erfahrungen aus würde ich Pörksens Konzeption vom Kopf auf die Füße stellen: Der Mediengebrauch kommt vor der Analyse, der Psychologie und der Historisierung der Digitalisierung.“ – Sehe ich genau so. Sonst erkennt man gar nie, was SuS schon können, eigentlich denken, bereits tun. Statt *Texte* übers Schwimmen lesen und diskutieren lassen, bevor man ins Bassin steigt, gleich mit dem Abenteuer *Wasser* beginnen und mal schauen, was sich da tut!

  4. Andreas Sägesser sagt:

    ich mag es immer mal wieder mit Bernhard Pörksen „in Kontakt“ zu sein. Zum ersten Mal ist er mir im Dialog mit Heinz von Förster in „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ begegnet. Ein kluger Zuhörer und ein begnadeter Fragenentwickler!

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