Wenn es darum geht, wie Google, Facebook und andere Social-Media-Anbieter den verschiedenen Problemen auf ihren Plattformen begegnen sollen, wiederhole ich immer wieder eine Forderung: Plattformen müssen in der Schweiz eine Redaktion ansiedeln, welche Entscheidungen umfassend verantwortet. Plattformen betreiben Journalismus. (Mit Journalismus meine ich das Bereitstellen von Informationen und Nachrichten für eine Öffentlichkeit sowie das Artikulieren von Sachverhalten oder Problemen – diese Definition findet sich etwa bei Ruß-Mohl.)
In meinem neuesten Buch habe ich diesen Gedanken wie folgt ausgeführt:
Facebook, Google, Twitter und auch Snapchat fällen regelmässig redaktionelle Entscheidungen. Viele davon sind versteckt – etwa wenn es um automatische Vorschläge bei Sucheingaben, um die Behandlung von Löschanträgen oder die Einführung neuer Snapchat-Filter geht – und unterliegen keiner Art von Rechtfertigungspflicht. Jede Art von Transparenz oder medienethischer Verantwortung fehlt. […]
Wie andere Berufsethiken sind diese Fragen für Medienschaffende zwischen den Anforderungen der Praxis, möglichst wirksame und gefragte Arbeit zu leisten, und dem rechtlichen Rahmen anzusiedeln. Schwierige ethische Probleme erfordern von Medienschaffenden, etwas zu unterlassen, was praktisch, attraktiv und legal wäre, aber dennoch nicht vertretbar ist. Der politische und juristische Druck auf die grossen Netzplattformen müsste also ein medienethisches Bewusstsein bewirken. Einfache Lösungen dafür gibt es kaum. Entscheidend ist dieser Punkt jedoch deshalb, weil die Orientierung an Reichweite statt Relevanz, an klickbarer Werbung statt gesellschaftlich konstruktiver Berichterstattung von den digitalen Plattformen aus klassische Massenmedien beeinflusst und verändert. Wenn Facebook und Google ohne redaktionelle Verantwortung Nonsens verbreiten, weshalb sollten das Tageszeitungen oder Fernsehsender nicht auch tun? (Schwimmen lernen, S. 126f.)
Was Facebook und Google von der Redaktion einer Zeitung unterscheidet, ist die fehlende Produktion von Inhalten. Das Narrativ, die Plattformen würden lediglich einen Raum zur Verfügung stellen, in dem journalistische Inhalte publiziert würden, vertreten diese Netzunternehmen selbst – weil es sie von der Verantwortung für ihre Entscheidungen entbindet.
Betrachten wir nur Facebooks letzte Veränderungen am Algorithmus (geringere Sichtbarkeit für Posts, die Leserinnen und Leser zu bestimmten Reaktionen auffordern; Erkennung durch Fake News zuerst über externes Fact Checking, neu über Crowdsourcing; reduzierte Sichtbarkeit für journalistische Inhalte), so wird deutlich, dass die Plattform in der Lage ist, die Sichtbarkeit von Inhalten zu steuern. Facebook legt fest, wie Zusammenhänge entstehen; wie Leserinnen und Leser Beiträge wahrnehmen. Das ist ein Teil der journalistischen Arbeit: Selektion und Präsentation wie auch Fact Checking sind Aufgaben einer Redaktion. Selbst dann, wenn Algorithmen viele dieser Entscheidungen automatisiert umsetzen.
Im Dezember wurden die Obersee-Nachrichten in einem wichtigen Urteil verpflichtet, Facebook-Kommentare auf ihrer Seite zu löschen, weil sie widerrechtlich sind. Ob Kommentare publiziert und angezeigt werden, entscheiden aber Seitenbetreiber nur ex post – Facebook hingegen hat Filtermöglichkeiten, um die Publikation zu unterbinden, bevor sie erfolgt. Weshalb das Unternehmen keine Verantwortung dafür übernehmen muss, leuchtet mir nicht ein.
Aber die Diskussion ist eröffnet: Change my view!
Das ist absolut richtig! Hochinteressantes Thema.
Man muß eines sehen: Die größte Taxi-Firma der Welt (Uber) hat nicht ein einziges Taxi. Sie beschäftigt auch nicht nur einen Taxifahrer. Ist sie deshalb keine Taxigesellschaft?
Natürlich ist sie es!
Man muß noch eines sehen: Die größten Warenkaufhäuser der Welt (Amazon, Alibaba usw.) führen nicht einen Artikel selbst.Sind sie deshalb keine Warenkaufhäuser?
Natürlich sind sie es!
Und man muß sehen: Die größten Infomationsplattformen sind nicht mehr Papierzeitungen sondern Internetportale wie FB, Twitter usw. Sie haben nicht einen einzigen Redaktor. Sie beschäftigen nicht einen einzigen Journalisten. Sind sie deshalb kein journalistisch betriebenes Medium, nur weil sie anonyme oder nicht-anonyme Fremde schreiben lassen?
Natürlich sind sie ein journalistisch betriebenes Medium!