»nicht am Ast sägen, auf dem man sitzt« – Digitalisierung, Schulentwicklung und Spardruck

Kürzlich hat sich an einem Workshop ein Kollege wie folgt geäußert:

Ich würde ja sofort eine digitale Lernumgebung aufbauen, mit der Schüler*innen die deutsche Rechtschreibung sinnvoll lernen könnten – wenn ich wüsste, dass ich damit nicht an meiner eigenen Abschaffung mitarbeite.

Diese Aussage zeigt, dass Digitalisierung im Bildungskontext immer auch mit der Angst verbunden ist, im Kern gehe es um einen Abbau der Ressourcen, die Bildung beanspruchen kann. Grund dafür sind einerseits die Prognosen, die eine »Disruption« in allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen vorhersagen und damit das Ende für Volksschule, wie wir sie heute kennen, bedeuten könnten. Andererseits ist das Tabu des Sparens bei der Bildung seit knapp 10 Jahren verschwunden – eine politische Mehrheit ist bereit, der Bildung Mittel zu entziehen. So sehen sich staatliche Schulen einem permanenten Spardruck ausgesetzt.

Digitalisierung schafft einen neuen Rahmen für Schulentwicklungsprojekte. Wichtige pädagogische Ideen haben eine lange Geschichte, könnten sich aber in einem komplexen Schulsystem immer nur in Ansätzen durchsetzten. Hier scheinen neue Wege der Kommunikation Räume zu öffnen, die eine neue Schule mit neuem Lernen erahnen lassen.

Diese Vorstellungen oder Potentiale sind aber an die Drohung gekoppelt, Schulen immer wieder in neuen Sparrunden – oder »Leistungsüberprüfungen«, welche weder etwas »prüfen« noch sich mit »Leistungen« befassen – Mittel zu entziehen. Das hat zwei Effekte:

  1. Die Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte verschlechtern sich. Wer sich Innovation und Digitalisierung verschrieben hat, findet in Startups interessante Rahmenbedingungen – wer den Lehrberuf gewählt hat, bewältigt erst einmal den Berufsalltag, bevor er oder sie an Schulentwicklung oder Digitalisierung denken kann.
  2. Profilierung von Schulen oder aufwändige Projekte entziehen Kolleginnen oder Kollegen Ressourcen. Solidarität und gutes Klima stehen so im Widerspruch zu Experimenten und Entwicklung.

Bildungspolitisch wäre zu wünschen, dass Schulentwicklung vom Spardiktat getrennt würde. Wie ein aktuelles Projekt aus dem Kanton Aargau zeigt, dürfte in der Realität aber genau das Gegenteil eintreten: Innovation und Ressourcenentzug werden als Paket verkauft. Wer für gute Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte und gute Betreuung der Lernenden einsteht, muss sich gegen interessante Ideen wie längere Lektionen oder einen Deutschunterricht als Medienunterricht aussprechen. Wer diese Entwicklungen begrüßt, sägt am Ast, der als Titel über diesem Beitrag steht.

Im aktuellen Schweizer System wird Bildungsabbau blind beschlossen: Die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker beschließen nicht bestimmte Maßnahmen, sondern diktieren den Verwaltungen irgendwelche Maßnahmen, welche diese dann entwickeln und verkaufen müssen. Schulentwicklung wird so oft als eine Art Deckmantel verwendet, als eine Möglichkeit, die Verschlechterung als Verbesserung zu kommunizieren.

P.S.: Mir wurde vorgeworfen, meine Position als »Blogger« sei bequem – ich müsse ja solche Entscheide nicht umsetzen, sondern könne frei Ideale und Kritik verkünden, ohne gebunden zu sein. Das stimmt – ich bin diesbezüglich privilegiert. Gleichzeitig sehe ich auch das Argument, dass pädagogische Überlegungen bei unumgänglichen Sparrunden eine Rolle spielen sollen und Akteure im Bildungssystem mitreden sollen, wie eine Verkleinerung der Mittel am besten zu verkraften sei. Aber letztlich geht es auch um die Frage der Verantwortung für die Veränderungen. Wenn ich für zeitgemäße, digitale Bildung einstehe, befürworte ich damit keine Verschlechterung der Lern- oder Lehrbedingungen.

P.P.S.: Das Argument, Lehrkräfte würden sich deshalb der Digitalisierung verschließen, weil sie damit ihre berufliche Situation gefährden könnten, ist ein Mosaikstein, zu dem sich viele andere gesellen, welche die Lernkultur an Schulen konservativ werden lassen. Grundsätzlich schafft das System einfach wenige Anreize für Innovation.

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Schüler*innen bei einer Demo gegen Bildungsabbau in Luzern, 2012 (Bild: Gianni Walther)

 

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