Am Anfang des laufenden Schuljahres beauftrage ich eine Klasse, sich in einem Aufsatz vorzustellen. Auf dem Klassenblog verfasste jemand (oder mehrer) aus der Klasse eine Kritik am Auftrag: Er sei »absolut ungerecht«. Ich diskutierte diese Kritik mit der Klasse und kam zum Schluss, den Aufsatz als freiwillige Arbeit anzusetzen. Die Perspektive aus der Klasse direkt mitgeteilt zu bekommen, empfand ich als große Chance, meine Arbeit zu reflektieren und zu verbessern. Die Auseinandersetzung setzte bei der Machtverteilung im Schulzimmer an – ein Aspekt, den privilegierte Lehrpersonen und Dozierende oft übersehen.
An der Humboldt-Universität in Berlin spielt sich momentan eine ähnliche Geschichte ab – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Eine Vorlesung des renommierten Professors Herfried Münkler wird in einem Blog zusammengefasst und eine Kritik unterzogen. Einem Spiegel-Online-Beitrag zufolge empfindet der Professor die Begleitung der Lehrveranstaltung als »permanente Denunziationsdrohung«, während die Uni-Verantwortlichen sich daran stören, dass der Blog anonym geführt wird: »Die Blogger sollten aus ihrer Anonymität heraustreten, weil wissenschaftlicher Dialog nur im öffentlichen Diskurs möglich sei«, heißt es im Artikel. Die Studierenden, die hinter dem Blog stehen, verweisen auf die Öffentlichkeit der Vorlesung: »Man verändert die Welt nicht mit Waffen, sondern dadurch, dass man miteinander redet, sich organisiert und den Diskurs beeinflusst. […] Wer die Öffentlichkeit bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit sucht, muss sie auch ertragen können, wenn sie kritische Fragen stellt.« Ein ausführliches Statement von Münkler findet sich in einem Kommentar auf dem Blog.
Was ist davon zu halten? Aus meiner Sicht sind folgende Überlegungen relevant:
- Jede Art von Auseinandersetzung von Studierenden mit den Inhalten einer Vorlesung ist zu begrüssen. Kritik ist die Grundlage von Wissenschaft und die Basis eines Studiums.
- Deshalb wundere ich mich, dass solche Blogbegleitungen bei den großen Uni-Vorlesungen nicht Standard sind. (Das liegt wohl am großen Aufwand, der damit verbunden ist; an der fehlenden digitalen Affinität vieler Studierender und an der Kultur eine stärker ausbildungsorientierten Lehre an Universitäten.)
- Die Forderung, die Studierenden müssten aus der Anonymität treten, damit ihre Anliegen ernst zu nehmen seien, halte ich für verfehlt. Dass die Anliegen ernst gemeint sind, lässt sich daran ablesen, dass sie in ausformulierten Argumenten auf einem sorgfältig gepflegten Blog erfolgen.
- Klar – ein offenes Gespräch erfolgt dann, wenn die Teilnehmenden bekannt sind. Allerdings liegt die Schuld für die Machtverteilung an Universitäten nicht bei Studierenden, die darauf kaum einen Einfluss haben. Sie müssen nicht auf ihr Recht auf Kritik an einer Vorlesung verzichten, weil sie die beruflichen und akademischen Nachteile, die aus dieser Kritik entstehen könnten, nicht tragen können (oder wollen).
- Auch Diskussionen in einer Vorlesungen erfolgen von Seiten der Studierenden meist anonym. An der Gesprächssituation ändert sich durch den Blog kaum etwas.
- Verzerrungen oder Verfälschungen würden offensichtlich, wenn Münkler die Vorlesung ganz öffentlich durchführen würde (darauf weist auch eine Autorin einer Antwort auf Münklers Kommentar hin). Warum das nicht der Standard ist bei universitären Vorlesungen, scheint mir nicht sauber begründbar.
Die Geschichte ist Symptom einer fehlenden Kritikkultur. Mir ist als Dozent und Lehrer unklar, warum Kritik als etwas Negatives verstanden werden kann. Sie bietet immer die Chance, die eigene Lehre, das eigene Denken und die Wirkung auf andere zu reflektieren und verbessern.
Herzlichen Dank für den spannenden Blogeintrag. Ich bin in einigen Punkten ganz mit dir einverstanden, habe aber doch einige Anmerkungen. Als Student nehme ich für mich in Anspruch, aus einer anderen Perspektive auf diese Causa Münkler zu schauen. Gerne nehme ich Bezug auf deine sechs Punkte:
1. Ich stimme dir zu, dass Kritik Grundlage von Wissenschaft ist und Basis für das Studium ist (sein soll). Problematisch hingegen ist, dass jeder kritisiert und von Kritik spricht, ohne sich überhaupt mit dem Begriff auseinanderzusetzen. Ich bin der Meinung, dass man sich an der Uni auch theoretisch mit Kritik auseinandersetzen müsste, was leider zu wenig und nur bei wenigen Dozenten geschieht.
2. Warum sollte die Blogbegleitung Standard sein? Kritik an Uni-Veranstaltungen interessieren meistens ja nur jene Personen, die an den Veranstaltungen teilnehmen. Studenten diskutieren Veranstaltungen sehr wohl in ihrer Freizeit in Kleingruppen. Diese Auseinandersetzung finde ich sehr sinnvoll, wenn nicht sogar sinnvoller als das Verfassen eines Blogs. Denn in direkten Diskussionen bekomme ich sofort unterschiedliche Stimmen zu einer Veranstaltung. Auch habe ich schon mehrmals erlebt, dass solche Kritiken wieder in Veranstaltungen getragen und dort diskutiert wurden.
3. Mir wird nicht klar, warum du die Anonymität der Kritiker verteidigst. Ich habe im Kopf, dass du selber mal geschrieben hast, dass man – gerade, wenn man so inhaltlich schreibt – mit seinem Namen hinstehen soll (ähnlich wie im RL). Ähnlich sehe ich das auch hier!
4-5. Wieso sollten Studenten einen Nachteil haben, wenn sie offen Kritik an einem Dozenten äussern? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Dozenten es (grundsätzlich) sehr schätzen, wenn Studenten an ihren Veranstaltungen Kritik äussern. Die meisten Dozenten lassen es sogar zu, direkt in Veranstaltungen kritische Fragen anzubringen. Es stellt sich auch die Frage, welche Nachteile die Studenten hätten, wenn sie die Kritik direkt anbringen? Wie du ja in Punkt 5 feststellst, erfolgt auch die Diskussion in Vorlesungen (meist) anonym. Wenn sich durch den Blog nichts an der Gesprächssituation ändert, dann kann die Diskussion ja auch von Person zu Person direkt stattfinden. Warum also hebst du die Wichtigkeit von Blogs so hervor?
6. Ich gebe dir hier recht! 🙂
„An der Humboldt-Universität in Berlin spielt sich momentan eine ähnliche Geschichte ab..“
Eine ähnliche Situation? Ich denke, dass man die Kritik an einer Hausaufgabe nicht mit Vorwürfen vergleichen kann, dass man ausländerfeindliche oder frauenfeindliche Kommentare in einer Vorlesung getätigt hat. Mit der einen Kritik kann man als Lehrer sicherlich leben, mit der anderen wird der Ruf eines Professors zerstört. Stellen Sie sich folgende Situation vor. Die Schüler würden Ihnen in einem öffentlichen Blog vorwerfen, dass Sie hübsche Schülerinnen notenmäßig bevorzugen. Da der Blog öffentlich ist, würden Sie dann von anderen Lehrern und Freunden auf diese Diskussion angesprochen werden. Sie würden dann mit den Schülern darüber sprechen und ihnen glaubhaft erklären, dass dies nicht der Fall ist. Im besten Fall könnten Sie alle Schüler der Klasse überzeugen. Trotzdem würde Ihr Ruf darunter leiden, weil halt doch immer was hängenbleibt. Woran denken Sie, wenn Sie im Fernsehen Jörg Kachelmann sehen?