Der amerikanische Comedian Stephen Colbert prägte 2005 das Wort »truthiness«: Truthiness ist die gefühlte Wahrheit des Herzens und des Bauchgefühls, nicht die der Bücher und des Hirns (vgl. Wikipedia). Was Colbert überspitzt darstellt, ist die Funktionsweise des Confirmation Bias. Damit wird eine Verzerrung des menschlichen Denkens bezeichnet, die dazu führt, dass das Urteilsvermögen durch bereits akzeptierte Haltungen getrübt wird: Wer davon überzeugt ist, dass Frauen kommunikativer seien als Männer, wird Untersuchungen, die das belegen, mehr Glauben schenken als solchen, die es widerlegen. Und Beispiele aufnehmen, die dafür sprechen, Gegenbeispiele aber ignorieren.
Vieles fühlt sich als Wahrheit an (oder eben als Ausnahme, Manipulation etc.) – ohne dass rationale Gründe dafür sprechen. Truthiness ist die Basis jeder Verschwörungstheorie, die Wahrheiten ablehnt, welche dem Bauchgefühl widersprechen.
Der Psychologe Howard Gardner hat in einer Vorlesung in Harvard auf dieses Konzept Bezug genommen. Die Colbert-Show und andere Satire-Gefässe, deren Geschichten von vielen Leuten geglaubt werden, obwohl sie vollständig erfunden sind, zeigt für Gardner, dass Nachrichtenjournalismus generell ein Glaubwürdigkeitsproblem hat. Es gibt keine fixierten Wahrheiten, welche einer Allgemeinheit klar machen, wo die Grenzen zwischen Satire und Berichterstattung, zwischen Fiktion und Realität liegen.
Dazu, so Gardner, trage auch Technologie bei:
Technology further challenges and complicates notions of truth. In an age of social media, virtual realities, and ubiquitous hackers and cyber bullies, establishing what is true, or whom or what to trust, is increasingly complicated.
Gardner vermischt hier verschiedene Aspekte. Einige habe ich schon einmal kommentiert:
- Das Streben nach Resonanz verleitet auch Fachleute dazu, Unwahres zu verbreiten. Oft ist es aber auch äußerst schwierig, relevante Informationen von verunreinigten oder gefälschten zu trennen.
- Journalistinnen und Journalisten haben einen Anreiz, maximale Aufmerksamkeit zu suchen. Dieser ersetzt das berufsethische Credo, nur Wahres zu verbreiten.
- PR-Fachleute nutzen Social Media systematisch, um Werbebotschaften effektiv zu vermitteln. Dabei lösen sie Grenzen zwischen Werbung und Berichterstattung, zwischen persönlicher Meinungen und bezahlter Meinungsäußerung bewusst auf.
Den Faktor der Technologie habe ich bisher weggelassen. Darauf zielt Gardners grundsätzliche Frage ab: Wird es komplizierter, herauszufinden, was Wahrheit ist? Gardner bezweifelt sogar, dass es heute noch möglich ist, herauszufinden, was wirklich los ist.
Wahrheit hat verschiedene Komponenten:
- Korrespondenz: wahr ist, was die Realität abbildet
- Wahrnehmung: wahr ist, was ich selbst wahrnehmen kann
- eine soziale: wahr ist, was meine Bezugsgruppe für wahr hält
- eine pragmatische: wahr ist, was mir Orientierung im Leben ermöglicht
- Kohärenz: was wahr ist, weist keine Widersprüche auf.
Technologie schafft Komplexität – nicht nur im Netz. So zeigt ein genauerer Blick, dass wissenschaftliche Methoden Wahrheit nicht präzise herstellen können – gleichwohl halten wir daran fest, dass sie zuverlässig sind. Wenn wir die Realität immer genauer abbilden können, dann gibt es immer subtilere Formen von Manipulation. Dasselbe gilt für soziale Faktoren: Wenn ich im Netz plötzlich die unterschiedlichsten Seiten und Meinungen meiner Bekannten wahrnehmen, wie kann ich mich darin orientieren und einen Konsens orten?
Das Bedürfnis, nur wahre, relevante und reine Informationen an sich heranzulassen, kennen viele Menschen. Nur: Das Bedürfnis sagt nicht, dass das möglich ist. Wenn Walter Cronkite in den 60er-Jahren »And that’s the way it is« sagte, versuchte er, Wahrheit und Relevanz herzustellen. Zur damaligen Zeit mag ihm das in einem sozialen, pragmatischen und kohärenten Sinn gelungen sein. Heute würden wir den Wahrheitsbegriff seines Publikums dekonstruieren und könnten nachweisen, dass viele Aspekte der Berichterstattung manipulativ, falsch, tendenziös etc. waren.
Fazit: Wahrheit ist schwieriger geworden. Das meint aber zunächst lediglich eine Komplexitätssteigerung. Mehr Stimmen zu hören erfordert mehr Aufwand, um Lärm von Geräusch zu trennen und Harmonien herzustellen. Unter diesen Stimmen gibt es viele, die »Bullshit« im Sinne Frankfurts verbreiten: Informationen, bei denen es den Urheberinnen und Urhebern egal ist, ob sie wahr sind oder nicht. Das ist ein Problem. Und Gardner hat Recht: Erziehende müssen es anpacken. Kinder und Jugendliche müssen lernen, kritisch zu sein, solidarisch dafür einzustehen, Wahrheit zuzulassen.
Technologie ist nicht neutral: Sie beeinflusst Menschen, die sie nutzen, aber sie kontrolliert sie nicht. Wer meint, Wahrheit in Youtube-Videos von dubioser Quelle finden zu können, muss dafür die Verantwortung übernehmen.
Vielen Dank fürs Aufnehmen des Themas und die Ausführungen! I new I was not going to be disappointed.
Ich bin einverstanden: Technologie ist nicht neutral (‚Kranzberg’s laws of technology‘) und wenn sich mehr Stimmen erheben, bedeutet dies eine Komplexitätssteigerung. Womit ich nicht einverstanden bin: Komplexitätssteigerung bedeutet m.E. nicht, dass ein direkter Zusammenhang mit Wahrheit besteht. Mir scheint zudem, dass es an sich unmöglich ist, Wahrheit zu messen (auch deren „Schwierigkeitsgrad“). Ich halte es mit dem konstruktivistischen Ansatz von Watzlawick („Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“). Wahrheitsfindung wahr schon immer eine eher schwierige Angelegenheit. Weil man etwas häufig hört, wird es nicht wahrer (war schon vor dem Netz so und m.E. ein zentrales Thema der Aufklärung).
Ich stehe noch unter dem Eindruck von Dokumentarfilmen aus dem Süden der USA, wo viele jahrzehntelang mit der „einzigen offiziell anerkannten Wahrheit“ von evangelikalen Predigern zurecht kommen mussten und sich sehr verbiegen mussten, um mit ihrer „persönlichen Wahrheit“ (schwarze Hautfarbe, Abtreibung, Homosexualität, Seitensprung etc.) zu überleben. Für solche „Wahrheiten“ scheint es mir mit sozialen Medien einfacher geworden zu sein, andere Wahrheiten anderswo zu finden, die mit der eigenen Wahrheit eher im Einklang sind als mit den Wahrheiten der „Sündenprediger“.
Die Komplexitätssteigerung, die durch mehr Stimmen stattfindet, abzuwägen gegen die Verbreitung verschiedener Wahrheiten jenseits des Mainstreams, scheint mir kaum möglich.
Wahrscheinlich habe ich mich nicht präzise ausgedrückt: Wenn doch Menschen im Netz Bezugsgruppen für ihre eigene Wahrheit finden, dann hat das doch den Preis, dass ihnen bewusst wird, dass ihre Wahrheit nur eine mögliche Wahrheit unter vielen ist. Diese Komplexitätssteigerung macht es doch schwieriger, diese Wahrheit für »wahr« zu halten. In Bezug auf die offizielle Wahrheit ihres Predigers, der soziale Normen vorgeben konnte, hatten sie Vorbehalte: Weil diese Wahrheit Widersprüche zu ihren Empfindungen, Haltungen aufwarf, weil sie sich nicht mit ihrer Wahrnehmung deckte etc. Ich denke nicht, dass der Zugang zu mehr Informationen oder eben Stimmen diese Vorbehalte aus der Welt schafft – die Widersprüche werden vielfältiger, die Wahrheiten ebenso.
Damit ist keine Wertung verbunden: Ich denke wie du, dass eine Wertung enorm schwierig ist und auch sinnlos. Aber wissenschaftshistorisch würde ich die These vertreten, dass »Wahrheit« immer schwieriger wird, je differenzierter Wissen sich präsentiert. Alles, was ich als Lehrer über Physik, Biologie, Chemie, Anatomie, Medizin, Geografie etc. weiß, ist Halbwissen. Ich kann zwar zu vielem etwas sagen, aber ich verstehe nichts wirklich so, wie es »wirklich« zu sein scheint. Das wäre vor 250 Jahren anders gewesen, denke ich.
Spannende Antwort. Ganz überzeugt bin ich dennoch nicht. Ob mehr sichtbare bzw. zugängliche Wahrheiten und wahrnehmbare Widersprüche einen höheren Preis haben, hängt doch eher davon ab, ob eine Person „ambiguitätstolerant“ ist (eine psychologische Dimension, die individuell unterschiedlich ausgeprägt ist). Wer nicht in den Mainstream passt, verfügt in einer vielfältigen Gesellschaft, die verschieden Wahrheiten zulässt, über eine höhere Lebensqualität. Daher sehe ich das Wahrnehmen verschiedener Stimmen und Wirklichkeiten keineswegs an sich als höheren Preis.
Das mit dem „wirklichen“ Wissen: Wie sicher können wir uns heute darüber sein, dass man früher nicht auch am Wissen und dessen „Wirklichkeit“ gezweifelt hat wie heute? War das nicht ebenso eine individuelle Angelegenheit, wie überzeugt man vom eigenen Wissen war? Können wir das heute überhaupt rekonstruieren und vergleichen?