Beginnen wir bei einem aktuellen Beispiel: Als Abschluss der Lektüre von Thomas Glavinics Carl Haffners Liebe zum Unentschieden ließ ich eine Klasse einen Aufsatz schreiben (Auftrag als pdf). Eine Schülerin und ein Schüler war krank. Eine Woche drauf vergass ich, sie den Text nachschreiben zu lassen, zwei Wochen später war der Schüler auf einer Studienreise, die Schülerin schrieb den Aufsatz. Da mir die Distanz zur Lektüre zu groß scheint, findet für den Schüler nun keine Nachprüfung statt.
Diese Vorgehensweise scheint mir situativ sinnvoll zu sein. Es wäre eine künstliche Situation, ihn einen anderen Text schreiben zu lassen, nur damit ich ihm eine Note geben kann. Gleichzeitig gibt es aber Mitschülerinnen und Mitschüler, die unzufrieden sind: Für Nachprüfungen müsse es doch Regeln geben, sonst sei das nicht fair.
Selbstverständlich ist mir bewusst, dass transparente Regeln für viele Menschen die Quelle von fairen Verfahren sind. Ein Rechtsstaat scheint ohne Gesetze kaum denkbar. Nur geht bei dieser Analogie schnell vergessen, dass diese Gesetze immer von Menschen ausgelegt werden – im Idealfall verhältnismäßig und situationsangepasst.
Das System der Schule – aber auch andere Gemeinschaften – tendieren dazu, situatives Handeln durch ein Regelgerüst zu ersetzen. Das ist aus meiner Sicht eine Falle, wie ich an einem anderen verbreiteten Problem aufzeigen möchte: Den Absenzen.
Auf Gymnasien sind Schülerinnen und Schüler oft in einem Alter, das Schwänzen als eine Alternative zum Schulbesuch attraktiv erscheinen lässt. Die nötige Cleverness vorausgesetzt, finden sie dazu meist Mittel und Wege. Ein massives Problem ist das an einigermaßen organisierten Schulen nicht: Nur ein Bruchteil der Schülerschaft (meine Schätzung: 5-15%) fallen der Versuchung des Absentismus anheim und schwänzen so intensiv, dass das für Lehrpersonen und Klassen zu einem Problem wird und ihren Lernerfolg gefährdet.
Nun gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Man ändert etwas am Absenzensystem oder vertraut auf eine situative Reaktion der Lehrpersonen. Was passiert im ersten Fall? Die notorischen Schwänzerinnen und Schwänzer passen sich ans neue System an, weil sie offenbar von Faktoren motiviert werden, welche das System nicht beeinflussen kann. Das System betrifft also nur die, welche kein Problem verursachen – weil sie sich nun an neue Regeln halten müssen.
Diese Tendenz zur Standardisierung habe ich aus anderen Gründen schon kritisiert. Sie ist eine permanente Versuchung: Missstände durch eine systematische Regeländerung aus der Welt zu schaffen. Nur entstehen diese Missstände, weil Menschen schon bereit sind, gegen Erwartungen und Regeln zu verstoßen. Warum sollte sie eine Änderung der Regeln veranlassen, ihr Verhalten zu ändern?
In der Schule gibt es eine Reihe von Beispielen:
- Zuspätkommen.
- Tragen von Mützen im Unterricht.
- Kleidung/Stil der Lehrpersonen.
- Essen und Trinken im Schulzimmer.
- Problematische Bewertungsmethoden.
- Mangelnde Qualität des Unterrichts.
- Respektlose oder unmotivierte Klassen.
- Mobbing.
- Verhalten in sozialen Netzwerken.
In diesen Fällen hilft – so meine Meinung – nur ein situatives Handeln. Der Kontext ist relevant – das ist die Verbindung zu Social Media, weil er Bedeutungen von Handlungen erst festlegt. Wer ihn ausblendet, um ein Problem zu lösen, verhindert eine genaue Einschätzung des Problems.
Vielen Dank für diese Überlegung. Der Einzelfall wird m.E. zu Recht auf dem Hintergrund von diversen Regeln und Zielen beurteilt; die Gewichtung dieser Regeln durch die Lehrperson kann dann aber als arbiträr erscheinen, was möglicherweise durch Vertrauen wettgemacht werden kann. Es verhält sich also wie bei einem Wort (z.B. „Satz“), dessen Bedeutung erst im Kontext klar wird (Federer verliert einen Satz. – Ein Satz von Daten reicht nicht.– Der dritte Satz der Sonate gefällt mir. – Welchen Satz meinst Du?) Die Wortform ist eindeutig, dessen Bedeutung aber offen und erst im Kontext klar (de Saussures Vergleich mit Schachspiel, z.B. auf http://spzwww.uni-muenster.de/griesha/spw/fds/schach.html ) Ein Regelverstoss ist eindeutig (Aufsatz nicht geschrieben), die Reaktion darauf in pädagogischem Kontext idealerweise situativ. Was dabei verloren geht und/oder vermisst werden kann, ist die Voraussehbarkeit allfälliger Reaktionen/Konsequenzen. Zudem kann situatives Handeln aufwändig sein, weil keine Standardreaktion bereitstehen. Was tun?
spannend. wenn mir richtig ist, argumentierst du aus sicht des relativisten und kommst zum schluss, dass situatives handeln helfe. m. e. sind regulative und gesetze differenzgenerierende verfahren. sie sind zugleich ein anlass zum verstoss, was ja auch auf die selbstunterhaltung des geschlossenen systems verweist. könnte es demnach nicht sein, dass eher der gezielt unreglementierte raum hilft, welcher handlungsermessen und situative beurteilung noch nicht einschliesst?
äh – interessantes Thema aber leider führst du ja gar nicht konkret aus, was denn dann die Alternative zu „Regeln“ ist. Ja klar du sagst es geht um „situatives Handeln“. Es soll ja aber doch immer noch professionelles pädagogisches Handeln sein (oder?). Also geht es darum, das Repertoire an Handlungskompetenzen zu erweitern. Dazu wären mindestens ein paar Fallbeispiele hilfreich.
Mir gefällt in diesem Zusammenhang die Idee eines Commitments (Selbstverpflichtung) – und da habe ich vor allem von Peter M. Senge gelernt, dass solche Commitments nicht „stabil“ bleibe. Commitments werden also immer wieder dem sich verändernden Kontext angepasst. Dabei gibt es Commitments auf verschiedenen Ebenen – gegenüber sich selber, in Lerntandems, in Lerngruppen, in Klassen, in Schulhäusern etc. Dieses Filmchen visualisiert das Phänomen https://www.youtube.com/watch?v=W1TMZASCR-I