Humanistische Bildung und Social Media

Ich wurde gebeten, einen Artikel zu meiner Perspektive auf das »humanistische Bildungsideal« zu schreiben. Mit »meiner Perspektive« ist die des Lernens in und mit digitalen Medien gemeint, mit dem »humanistischen Bildungsideal« die Frage, ob es sich dabei um ein »Auslaufmodell oder wieder zu entdeckendes Orientierungssystem« handle.

Daraus entstand ein Essay, den man hier als pdf-Dokument runterladen kann.

Hier auf dem Blog habe ich die Frage wie meistens schrittweise abgehandelt und mit Gedankengängen verbunden, die ich früher schon diskutiert habe. Es gibt drei Teile:

  1. Das humanistische Bildungsideal
  2. Javascript und Latein
  3. Mensch und Maschine

* * *

Hier also der erste Abschnitt zu meinem Verständnis des humanistischen Bildungsideals.

Im dritten Kapitel seiner »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen« von 1792 formuliert Wilhelm von Humboldt einen politischen Gedanken, der als Grundbaustein zu einem Bildungsideal gelesen werden kann:

Was nun der Mensch von außen empfängt, ist nur Samenkorn. Seine energische Tätigkeit muß es, seis auch das schönste, erst auch zum segenvollsten für ihn machen. […] Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich entwickelte.

Bildung ist – ganz knapp – die Entwicklung eines Individuums in Abgrenzung von Einflüssen von außen und Abgrenzung von fremden Zwecken. Objekte lassen sich von außen manipulieren, Instrumente dienen einem ganz bestimmten Zweck: Der gebildete Mensch ist weder Objekt noch Instrument, sondern setzt sich in ein Verhältnis zu den auf ihn wirkenden Einflüssen und zu den anzustrebenden Zwecken.

Bildung ist die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt in wechselseitiger Ver- und Beschränkung harmonisch – proportionierlich entfalten und zu einer sich selbstbestimmenden Individualität oder Persönlichkeit führen, die in ihrer Idealität und Einzigartigkeit die Menschheit bereichere.

Hier werden genauere Kriterien für die Entwicklung des Menschen im Bildungsprozess angegeben: Sie beinhaltet alle seine Fähigkeiten, die zudem im korrekten Verhältnis zueinander stehen sollen. Ihre Ausprägung erhalten sie, wenn Menschen in vielfältiger Weise mit der Welt interagieren und dabei selbstbestimmt zu einem Individuum werden.

Die humanistische Bildung organisiert diese breit angelegte Interaktion mit der Welt, indem sie Angebote bereit hält, mit denen sie – wiederum selbstbestimmt – stattfinden kann. Social Media fügt sich nun als ein Angebot ein: Wie das Lesen von Büchern, wie ein Gespräch oder wie ein Experiment in der Natur ermöglichen soziale Netzwerke eine Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Ideen, die Wahrnehmung von Darstellungen anderer Menschen und solchen der Natur, der Interaktion in Themenfeldern, welche menschlichen Interessen und Entwicklungsbedürfnissen entsprechen.

Social Media sind eine Ergänzung, Erweiterung der Bildungslandschaft, nicht ein Ersatz für etablierte Verfahrensweisen. In dieser Perspektive ist ganz klar, dass sie in Programm des humanistischen Bildungsideals gehören.

5 Kommentare

  1. Lisa Rosa sagt:

    Lieber Philippe Wampfler! Dass Du und andere den emphatischen Humboldt wieder ausgraben, ist ehrenwert und wundert mich nicht. Am Ende des bürgerlichen Zeitalters beginnen sich die Kritiker desselben an die Versprechungen ihres Anfangs zu erinnern. Und sie wollen v.a. auch die Eliten dieser bürgerlichen Gesellschaft daran erinnern, was sie seinerzeit versprochen hatten, als sie selbst noch „revolutionär“ waren und gegen eine noch ältere Gesellschaft und deren Eliten – den Feudaladel – kämpften mit dem neuen Paradigma „Freiheit des Individuums und Selbstbestimmung“. Denn was ist daraus geworden? Übrig blieb das alles bedingende bürgerliche Paradigma „Leistung“ (statt adliger Herkunft). Humboldt war immerhin preußischer Minister, Elite, Entscheider. Warum hat er seine eigenen Ideen nicht so umgesetzt, wie Du sie verstehst? Er konnte nicht, denn er war an dieses bürgerliche Zeitalter und seine Möglichkeitsräume gebunden, die immer auch mögliche Denkräume bedeuten. Seine Vorstellungen vom freien selbstbestimmten Individuum mögen alle Individuen der Gattung eingeschlossen haben, die Möglichkeiten der Gesellschaftskonstruktion haben es nicht. Im Gegenteil: Nur weil der größere Teil der Gattung nicht diese Bildung zum freien selbstbestimmten Individuum genießen konnte, konnte es einen kleinen Teil freier selbstbetimmter Individuen geben. (Genauso wie im Kapitalismus nur einige reich sein können, weil ihr Reichtum auf der Armut des größeren Teils der Gattung beruht.) Insofern ist das Reklamieren des Humboldtschen Bildungsideals ein zweischneidiges Schwert. Man muss aufpassen, dass es einen ideell (also gedanklich) nicht in den Beginn der bürgerlichen Epoche zurückführt und dort festhält. Das könnte nämlich dazu führen, dass man den Beginn der wirklich neuen, noch ausstehenden postbürgerlichen Epoche (digitale Epoche, next society, Lerngesellschaft, however named) verpasst. Denn den Humboldt reklamieren nämlich gleichzeitig auch die konservativen und reaktionären Kräfte für sich, die gerade verhindern wollen, dass wir in die next society kommen, in der wohl mehr der Gerechtigkeit und Solidarität in der Trias der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) Tribut gezollt werden muss, soll nicht wie bisher und immer mehr (!) die Freiheit zu Lasten von Gattungsgerechtigkeit und Solidarität nur für einige wenige exekutiert werden.
    Wollen wir uns an der Humboldt-Exegese aufreiben, wenn wir mit den Reaktionären Bildungssystementscheidern streiten? Bloß nicht!

    1. Danke sehr für diesen aufschlussreichen Kommentar. Um ehrlich zu sein: Ich habe einen recht konkreten Auftrag bekommen und mich ihm durch die Humboldt-Lektüre genähert, um eine Art Konzept von dem zu haben, worüber ich schreiben sollte.
      Das war wohl etwas zu bequem und schnell, wie ich nun einsehe. Ich denke darüber nach und werde den Text ergänzen und umarbeiten.
      Noch einmal: Danke sehr.

  2. Sehr geehrter Herr Wampfler, ich lese (immer noch) an Ihrem Buch ‚ Facebook, Blogs….‘, weil ich teilweise echt nicht mehr als 2 Seiten schaffe. Ich finde das, was Sie da schreiben, einfach absolut genial und treffend, es bewegt mich, die Dimensionen sind für mich fast nicht packbar. Ich weiß nicht, ob es an meinem Alter liegt (49) oder an der Auffassungsmöglichkeit meines Hirns. Es tut beim Lesen das Denken weh. Ich arbeite unter anderem auch bei einer Softwarefirma, die eine echt geniale Datenbank entwickelt. Ich unterstütze dort, indem ich die Datenbank als normaler User beschreibe, ich habe keine technische Ausbildung. Als ich das erste Mal mit der Idee einer hierachielosen Datenbank konfrontiert wurde (n zu n Verbindungen??), hat es in meinem Hirn genauso weh getan. Ich bin jedenfalls total gespannt, wie diese Art der Vernetzung, Bildung, Wissensweiterverteilung unsere Zukunft prägen wird und ich freue mich darauf – habe fast Angst, nicht mehr alles erleben oder verstehen zu werden. Danke Ihnen jedenfalls für all die Anstösse in meinen Hirnwindungen, bin gespannt, ob ich diese Vernetzungen selber packe und wie sich dadurch meine Sicht auf alles verändert!

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