In Vorträgen und Interviews vergleiche ich das Internet immer wieder mit dem Straßenverkehr: Wir wissen, dass er gefährlich ist und Unfälle Kindern gravierenden Schaden zufügen. Und trotzdem haben wir Wege und Mittel gefunden, dass wir darauf vertrauen, dass Kinder den Schulweg alleine bewältigen können. Dasselbe sollte in Bezug aufs Internet das Ziel sein: Kinder und Jugendliche befähigen, das Internet alleine nutzen zu können.
Diese Woche haben zwei perfide Geschichten die Runde gemacht: Einerseits ein Pädophiler, der seine Übergriffe auf Facebook eingeleitet hat, indem er vorgegeben hat, eine junge Frau zu sein. So gelangte er an Nacktbilder von Kindern, die er dann als Druckmittel verwendet hat, um sie zu sexuellen Handlungen zu nötigen. Andererseits berichtet eine Frau auf ihrem Blog, wie sie sich in einem Mann verliebt hat, der ihr während Monaten vorgegaukelt hat, jemand zu sein, der er nicht war. Sie war nicht alleine: Der Betrüger hat mehrere Frauen mit der gleichen Masche missbraucht.
Der Gedanke, ein anderer Mensch könnte nicht der oder die sein, als der oder die er erscheint, ist uns nicht vertraut, er ist unheimlich und führt, wäre er ständig präsent, zu einer enormen Distanz zur Wirklichkeit und zu Schwierigkeiten, mit anderen Menschen Beziehungen eingehen zu können. Und während wir anderen Menschen im Alltag in die Augen schauen, schauen wir ihnen auf Social Media in die Augen von Profilbildern. Und diese Augen könnten die von jemand anderem sein.
Es ist nicht die Regel, dass Menschen auf Social Media vorgeben, jemand anderes zu sein und mit elaborierten Plänen andere Menschen missbrauchen oder nötigen. Es passiert wahrscheinlich ungefähr so häufig, wie Autofahrende bei Zebrastreifen auf ihr Handy schauen und ohne zu bremsen weiterfahren. Mit anderen Worten: Es ist eine Gefahr, auf die man Kinder und Jugendliche aufmerksam machen muss. Nicht die Regel, sondern die Ausnahme – aber eine, die man kennen sollte. Und mit Menschen auf Social Media interagieren, auch mit Unbekannten – aber anderen davon erzählen, sich nicht abschotten, ihnen nicht Informationen oder Bilder zukommen lassen, die man nicht auch mit Unbekannten auf der Strasse teilen würde.
(Zusatz: Kusanowsky hat hier weitere Beispiele gesammelt.)
So sehr ich Philippe bewundre, das ist einer seiner Vergleiche, die soziale (und juristische) Kontexte vollkommen ausblenden. Eltern vertrauen dem Straßenverkehr doch nicht nur, weil sie ihren Kinder „Straßenkompetenz“ zutrauen, sie tun das vor allem, weil sie wissen, dass der Straßenverkehr vielfach gesichert ist. Und genau deswegen hinkt der Vergleich von Phillipe eben: das Netz ist nullkommanull gesichert, Wampfler und viele andre Netzaktivisten setzen allein auf Medienkompetenz. Freiheit und Sicherheit aber sind Zwillinge, das eine gibt es nur mit dem anderen. Und im Netz gibt es alles das gar nicht: keine Eltern, die sich auskennen und erziehen; keine Schule, die der medienerziehung mächtig wäre; keine gültige StVO fürs Netz; ein geradezu grotesk lächerlicher Jugendmedienschutz (den Medienpädagogen ja auch rundweg ablehnen, Imagine!) So gut wie keine Polizeistreifen, schon gar keine Ampeln etc.
Man fragt sich ein bisschen, wo derjenige hinwill, der bei einem Vergleich wie Philippe ALLEIN auf Vertrauen setzt. Alle Erfahrungen mit selfies, sexting, cybergrooming, younow etc strafen wampfler Lügen. Kinder und Jugendliche sind von fundamentalen Eigen-Sicherungsfragen Lichtjahre entfernt, das Nerz überfordert sie – in jeder Hinsicht. Ich behaupte, dass Philipe das grundlegende Phänomen des digitalen Exhibitionismus nicht erfasst hat. Schade.