Warum teilen Lehrkräfte ihre Materialien nicht?

Fast alles, was ich für Unterrichtssequenzen und Referate erarbeite, publiziere ich im Netz und teile die Links dazu auf meinen Kanälen. Immer wieder erhalte ich die Bemerkung als Rückmeldung, ich sei leider immer noch eine Ausnahme. Warum tun das nicht mehr Lehrkräfte?

Spannende Fragen kann man mit einfachen Antworten die Brisanz nehmen – zumal diese Antworten meist falsch sind, aber oft große Überzeugungskraft haben. So könnte man schnell darauf hinweisen, dass Lehrkräfte halt falsch ausgebildet werden; generell dazu tendieren, sich abzuschotten oder überlastet sind, um das auch noch leisten zu können. Das mögen alles Faktoren sein, die zu einer Kultur führen, in der Zusammenarbeit erwünscht und nötig ist, aber nur unter bestimmten persönlichen Voraussetzungen möglich ist. (Diese Voraussetzungen führen dazu, dass die Frage im Titel schon falsch ist – einige Lehrerinnen und Lehrer teilen ihre Arbeiten durchaus.)

Der Lehrberuf – das habe ich aus meiner persönlichen Perspektive schon ausführlich kommentiert – besteht oft darin, Unsicherheit zu verstecken, zu verhindern, zu überblenden. Der Einbezug eines weiteren Publikums (im Netz weiß man ja nie genau, wer was liest) steigert diese Unsicherheit. Daraus entsteht eine Kultur, in der Betroffene zwar gewillt sind, andere Lehrkräfte sporadisch in ihre Prozesse einzubeziehen, sich dabei aber stark nach außen abschotten.

Produktiv wird die Antwort auf die Eingangsfrage, wenn man eine Coachingperspektive einnimmt. Eine Formel von Juli0 Olalla, mit der oft erklärt wird, wie Coaching wirken kann, kann dabei helfen, Faktoren auszumachen, die einen Lehrkörper dazu befähigen könnten, ihre Materialien und Ideen zu teilen.

Julio Olalla (Quelle)
Julio Olalla (Quelle)

Die Formel enthält fünf Komponenten – ich gehe sie von unten her durch:

  1. Der Aufwand für die Veränderung ist zu groß. 
    Das ist einer der Gründe, weshalb ich daran arbeite, Learnify in die Schweiz zu bringen. Entsprechende Werkzeuge sind zu wenig bekannt, werden zu wenig genutzt. Sie können den Aufwand reduzieren.
    Aber der Aufwand ist nicht nur technischer Natur. Die Vorstellung, Lehrkräfte dürften nur perfektes Material publizieren, ist zu verbreitet. Der Aufwand sinkt, wenn man alles als Entwurf ansieht und anderen das Recht zuspricht, Veränderungen und Verbesserungen vorzunehmen.
  2. Die nötigen Schritte sind zu wenig klar. 
    Teilen klingt einleuchtend. Dokumente in die Dropbox ziehen können alle Lehrkräfte. Aber was dann? Wie schafft man ein Publikum, wie vernetzt man sich, mit welchem Nutzen? Wie überwindet man den Schock, dass nicht alle die eigenen Arbeitsblätter sofort kopieren und einsetzen, sondern schlicht und ergreifend niemand überhaupt bemerkt, dass man etwas publiziert hat? Wie wirbt man für das eigene Angebot, wie kann man dafür – durch anderes Material – entschädigt werden?
    Hier kann ein Angebot auf der Ebene der Institution Schule oder eines Schulverbunds helfen. Oder eben: Learnify mit den entsprechenden Features (erwähne ich ab jetzt nicht mehr, versprochen).
  3. Zuversicht in die Machbarkeit. 
    Dazu muss nicht viel gesagt werden: Hängt sehr stark mit 2. zusammen – aber auch mit dem gefühlten Aufwand. Lehrkräfte tendieren dazu, eine Art intuitives Kerngeschäft festzulegen (mein Unterricht, meine Korrekturen) – und alles Weitere als eine reine Belastung zu empfinden, die sie vom Kerngeschäft abhält. Sharing ist aus zwei Gründen eine Entlastung:
    a) Es führt zu Wertschätzung.
    b) Es hat einen reziproken Effekt – wer teilt, profitiert vom geteilten Material anderer.
  4. Anziehungskraft der Zielvorstellung. 
    Das Idealbild vieler Lehrkräfte ist ein Lehrmittel, das genau die von ihnen gewünschten Kopiervorlagen enthält. Fertige Lösungen liefert Sharing nicht, sondern erfordert einen Aufwand, das Material zu sichten und zu bearbeiten. Auf die Publikation von Material hat direkt keinen positiven Effekt, kann nur schwer als wünschbar erlebt werden – erwartet wird vielmehr Kritik von Eltern, Fachleuten, Medien. Vergessen geht der Effekt der Vernetzung – genau mit diesen Kreisen.
  5. Der mangelnde Wille. 
    Ein sehr individueller Faktor – zu dem es vielleicht nur zu sagen gibt, dass ein Wille ansteckend sein kann.

Das Olalla-Modell zeigt für mich eine wertungsfreie Perspektive: Wille, Zielvorstellung, Machbarkeit und Klarheit der Idee des Sharings sind Moment kleiner als der Aufwand, der ihre Umsetzung mit sich bringt. Ich werde viel daran setzen, dass sich das ändert – aber nicht der Illusion verfallen, eine reine technische Lösung oder sozialer Druck wären dafür geeignet, den Prozess zu beschleunigen.

* * *

Zusatz vom 30. März 2015: 

In der Diskussion dieses Beitrags wurden verschiedene Aspekte erwähnt, die ich durchaus im Hinterkopf hatte, aber teils bewusst, teils nicht-bewusst weggelassen habe (es ging mir um eine wertungsfreie Analyse). Ich ergänze sie gerne, weil das Bild ohne sie unvollständig ist: 

  • Die Angst vor urheberrechtlichen Problemen (in D sicher stärker als in der Schweiz). 
  • Die Angst vor dem Vergleich mit anderen und vor dem fremden Blick.  
  • Die Vorstellung, eigene Arbeit selbst nutzen zu wollen und nicht anderen ohne Entschädigung zur Verfügung stellen zu wollen. 
  • Mangelnde technische Fertigkeiten von Lehrpersonen.
  • Vieles, was Lehrkräfte erarbeiten, ist entweder zu banal oder zu spezifisch um publiziert zu werden.
  • Das Wesentliche am erfolgreichen Unterricht kann nicht im Netz veröffentlicht werden.
  • Unsicherheit.

Das viele Befürchtungen Lehrkräfte lähmen, ist mir durchaus bewusst. Entscheidend ist für mich aber der Hinweis auf den Kontext – das wollte ich ursprünglich im Artikel hervorheben: Viel Material passt genau auf eine Unterrichtssituation. Wer es veröffentlicht, kann die nötige Transferleistung nicht erbringen. Daher traut man das anderen fälschlicherweise auch nicht zu.  

sharing

6 Kommentare

  1. Hans-Jürg Keller sagt:

    Das Modell leuchtet mir ein, vielen Dank. M.E ist der ausschlaggebendste Punkt Nummer 4, die Anziehungskraft der Zielvorstellung. Ein öffentliches Sharing erscheint vielen als nicht wünschbar, weil die Aufwand-Ertragsbalance nicht stimmt. Es braucht einen grossen Aufwand, d.h. viel Selbstsicherheit und Energie, um die negativen Kommentare, die bei einem öffentlichen Teilen bestimmt auch kommen zu beantworten oder sie wegzustecken. Den Ertrag, d.h. Feedback, Wertschätzung, reziproken Effekt erzielt man auch, wenn man in kleineren Kreisen, im Schulhausteam oder unter Kolleginnen und Kollegen teilt. Der Beruf bringt sonst (neben all dem Positiven) genug rauen Wind, den möchte man ja nicht auch noch beim Teilen spüren…

  2. animle sagt:

    Ich habe am Mo 27.4.15 13-15 Uhr ein KZ-SURVIVOR zu Besuch im schulzimmer und möchte das Interview live ins Netz streamen. Welche apps bzw Plattformen empfehlen Sie?

  3. Eine interessante Sichtweise. Meines Erachtens ist der Punkt Anziehungskraft entscheidend. Er enthält, wie du richtig darlegst, mehrere Aspekte: bei fremdem Material Zweifel an der Qualität und somit Furcht vor Mehrarbeit sowie, bei eigenem Material, Angst vor Schelte.
    Urheberrechtliche Bedenken könnten den ein oder anderen vielleicht auch noch davon abhalten, eigenes Unterrichtsmaterial zu veröffentlichen (bei mir ist das häufig so), den Großteil aber wohl nicht. Schaut man sich in einigen Lehrer-Tauschbörsen um, bekommt man den Eindruck, Bedenken dieser Art seien manchen Kollegen eher fremd. Eine Ausnahme bilden moderierte Tauschbörsen, die bereits mit Abmahnungen konfrontiert waren.

  4. brueedi sagt:

    Lieber Philippe
    Selbstverständlich ist „es“ eine Frage der Technik und des sozialen Drucks. Im letzten Wochenbrief (eMail) hat die Schulleitung auf SRF mySchool und Beiträge und Arbeitsblätter samt Lösungen hingewiesen. Total unnütz. Sollen sich die LehrerInnen nun am Computer im Vorbereitungsraum zufällig an diesen Link erinnern, versuchen, ihr Mailkonto und das Schreiben zu erreichen, die Adresse http://… mühsam einschreiben – um die Uebersicht in der mySchool zu verlieren, bevor sie gefunden wurde? Und wie käme der Film im Schulzimmer an die Wand?
    Nein, das Handy ist kein Computer und überdies privat und zudem – „können die Arbeitsblätter tatsächlich vom Handy aus kabellos ausgedruckt werden?“
    Klar müssen gerade auch LehrerInnen zu ihrem Glück gezwungen werden. Ja, sie müssen „das“ können. Ja, sie müssen in ihrem Schulzimmer nicht nur einen (nicht in einem Kasten versorgten, sondern) stets bereiten Beamer, sondern auch einen AppleTV (oder ähnliches) haben.
    … (jetzt käme das Schimpfen auf die Dozis an den PH’s)

  5. Beat Rüedi sagt:

    Ich würde jetzt gern auf deinen letzten Satz: “ Ich werde viel daran setzen, dass sich das ändert – aber nicht der Illusion verfallen, eine reine technische Lösung oder sozialer Druck wären dafür geeignet, den Prozess zu beschleunigen.“ zurückkommen. Muss es aber gar nicht, weil ich vermute, dass du weisst, was ich schreiben würde.

    Ich unterrichte an einer Schule mit 18 Klassen, an welcher genau eine Lehrerin und ein Lehrer zusammenarbeiten. Ja, die beiden sind miteinander verheiratet. Und ich unterrichte an einer Schule, welche sich seit mehr als einem Jahr in Kooperation (schulentwicklung.ch) weiterbilden lässt – wobei unter Kooperation wohl das Zusammenarbeiten der SchülerInnen, nicht aber der LehrerInnen verstanden wird.

    Wichtigste Bezugsquelle für Lektionen (ausserhalb der Lehrmittel samt Kopiervorlagen) sind nicht die (Fach-) KollegInnen, sondern arbeitsblaetter.ch. Meine Schule macht keine Anstalten, dies ändern zu wollen – zu hoch wird die individuelle Selbständigkeit der Lehrpersonen gehalten. Es besteht kein Bedürfnis, eine gemeinsame Plattform anzubieten.

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