Warum Überwachung ein Problem ist

Überwachung ist ein konstantes Thema in der digitalen Kommunikation. Nicht erst seit Edward Snowden enthüllt hat, wie die NSA auf Daten aus dem Internet zugreift, gibt es Widerstand und Empörung gegen staatliche Überwachung in Internet. Im folgenden Beitrag möchte ich diskutieren, warum diese Überwachung ein Problem ist. Ich bin der Meinung, dass dies oft mit wenig überzeugenden Argumenten gezeigt worden ist, und beginne deshalb mit einer Kritik der Überwachungskritik.

(1) Der Ausnahmezustand als das schlechteste aller Argumente

Judith Horchert hat in einem SPON-Essay darüber nachgedacht, was dem Bundesnachrichtendienst an ihrer Online-Präsenz auffallen könnte. Sie sei ein »unschuldiger und unverdächtiger Mensch« und wolle daher weder »ihr Leben geändert bekommen« noch ihr Verhalten erklären müssen. Das Problem mit dieser Sichtweise: Ob wir verdächtig sind oder nicht, entscheiden nicht wir selbst. Ein Verdacht ist gerade nicht an eine Schuld – im Sinne des Rechtsstaates – gekoppelt. Sobald eine Bombe hochgeht, ein Kind verletzt wird oder schon nur Geld verschwindet, sind alle Bedenken in Bezug auf Überwachung hinfällig. Menschen sind auch in demokratischen Gemeinschaften bereit, im Ausnahmezustand umfassende Überwachungssysteme zu bewilligen, die eine große Menge an Menschen verdächtigen. Zu denken, dass gerade der Ausnahmezustand dazu führen könnte, dass wir aufgrund unseres Online-Verhaltens ungerechtfertigterweise verdächtigt würden, ist naiv: Der Ausnahmezustand führt immer dazu, dass Menschen ungerechtfertigerweise verdächtigt, überwacht und verhaftet werden. Dagegen kennen weder Rechtsstaat noch Demokratie ein Mittel.

Surveillance, David Chang
Surveillance, David Chang

(2) Die Reaktion auf das »Nothing-To-Hide«-Argument

Wer nichts zu verbergen habe, habe auch nichts zu befürchten, meinen viele Advokatinnen und Advokaten von umfassender Überwachung. Betroffen seien ja nur die anderen – also die, welche der Gemeinschaft schaden. Und tatsächlich ist dieses Argument in einem klar definierten Kontext gültig: Geschwindigkeitskontrollen gehen in Ordnung, weil erstens die Daten sparsam erhoben werden, nicht archiviert werden und die Kontrolle dazu dient, eine erwünschte Anpassung des Verhaltens herbeizuführen. Warum aber gilt das Argument in einem größeren Kontext – z.B. bei der Überwachung aller Emails – nicht? Standardargumente enthalten die Beobachtung, dass alle Menschen etwas zu verbergen hätten und das auch tun bzw. wollen, oder kritisieren das Argument, weil es die Zusammenhänge umkehrt: Menschen müssen nicht rechtfertigen, warum sie nicht überwacht werden wollen, vielmehr muss die Überwachung begründet werden.

Doch diese Argumente greifen zu kurz, weil sie entweder davon ausgehen, dass Privatsphäre bedeutet, etwas zu verstecken (was implizit Überwachung legitimiert), oder dass Überwachung nicht begründet werden kann. Es ist sinnvoll, bei der Diskussion von Überwachung davon auszugehen, dass sie im Rahmen eines demokratisch erlassenen Gesetzes erfolge (ansonsten gibt es ohnehin einfache Möglichkeiten, sie zu kritisieren).

(3) Was ist eigentlich Privatsphäre? 

Privatsphäre ist mehr als das Recht, Informationen zu verstecken. Überwachung verletzt mehrere Aspekte unseres Rechts, aus verschiedenen Gründen die Kontrolle über persönliche Informationen zu behalten. Es ist falsch, davon auszugehen, dass wir alle Steuern hinterziehen, unsere Partnerinnen und Partner betrügen oder ständig moralische Tabus brechen. Entscheidend ist, dass wir oft abwägen, wem wir was erzählen. Privatsphäre ist ein Konzept mit komplexen juristischen, sozialen und kognitiven Bestandteilen, das sich nicht einfach darauf reduzieren lassen kann, Verbotenes oder Verpöntes geheim zu halten.

(4) Das System braucht Daten

Es gibt kein Leben ohne Preisgabe von Daten. Wenn wir Briefe verschicken wollen, dann braucht die Post aus logistischen Gründen eine Adresse des Senders und der Absenderin, um funktionieren zu können. Der Staat braucht Informationen über seine Bürgerinnen und Bürger, um sicher stellen zu können, dass alle eine Ausbildung genießen und ans Abwassersystem angeschlossen sind. Und Google braucht unsere Daten, um uns tolle Dienstleistungen anzubieten. Überwachung ist ein Preis, den wir dafür zahlen, dass unser Leben einfacher wird. Digitale Technologie ermöglicht die verlustfreie, aufwandslose Kopie. Sie befördert die Verbreitung von Wissen, schafft neue Voraussetzungen für Kreativität: Aber erleichtert auch Überwachung. Überwachung ist das Prinzip des Internets.

Wir wollen, dass Verbrechen aufgeklärt werden können. Und doch übersehen wir dabei oft naheliegende Probleme, mit denen Grenzen überschritten werden.

Das Immersion-Projekt des MIT zeigt, wie unsere Gmail-Kontakte vernetzt sind. Allein die so genannten Metadaten lassen differenzierte - aber natürlich auch falsche - Rückschlüsse über unser soziales Umfeld zu.
Das Immersion-Projekt des MIT zeigt, wie unsere Gmail-Kontakte vernetzt sind. Allein die so genannten Metadaten lassen differenzierte – aber natürlich auch falsche – Rückschlüsse über unser soziales Umfeld zu.

(5) Probleme von Überwachung

Überwachung schadet ganz konkret – auch abgesehen vom Ausnahmezustand. Hier einige Probleme, die entstehen:

  1. Bürokratie
    Überwachung wird von Menschen durchgeführt, die in bürokratischen Prozesse eingebunden sind: Sie halten sich oft an starre Abläufe, sind aber auch frustriert, machen Fehler, sind gleichgültig und werden zu wenig kontrolliert, so dass einfach vieles nicht so läuft, wie das die Gesetzgeberin oder das Gesetz vorsehen.
  2. Menschen und Hierarchien
    Überwachung führt zu überwachten Menschen und überwachenden. Diese handeln zwar im Auftrag einer Gemeinschaft oder des Staates, doch dieser Auftrag ist in den problematischen Fällen weder klar noch explizit vorhanden (anders als im Fall der Geschwindigkeitskontrolle). Wer nun überwachen kann oder muss, ist versucht, die dadurch entstehenden Möglichkeiten zu nutzen. Gleichzeitig entsteht so eine Klasse von Menschen, die zu Daten Zugang hat, die für andere nicht einsehbar sind.
  3. »Chilling Effect« 
    Anne Roth schreibt über ihre Erfahrung mit Überwachung:

    Irgendwann bemerkte ich eine Stimme in meinem Kopf: „Dreh dich auf der Straße nicht um! In den Akten stand, dass sie das bei Andrej verdächtig fanden.“ – „Mach keine Witze über Brandanschläge am Telefon! In den Akten stand, dass sie das in einem Telefongespräch mit deiner Mutter angestrichen haben.“

    Der Chilling Effect beschreibt, dass wir unser Verhalten ändern und anpassen, wenn wir wissen, dass wir beobachtet und überwacht werden. Wir tun nicht mehr, was wir wollen, sondern eher das, was uns unverdächtig erscheinen lässt.

  4. Eigendynamik von Überwachung und Verdächtigung
    Überwachung müsste wohlwollend geschehen: Entlastende Informationen müssten berücksichtigt werden, selbst das Fehlen von belastenden Informationen müsste als Entlastung interpretiert werden. Tatsächlich führen Überwachungssysteme dazu, dass die Überwachung selbst gerechtfertigt wird: Details werden immer so interpretiert, dass sie für eine Beibehaltung oder Ausdehnung von Überwachung sprechen. Kann ein Verdacht nicht erhärtet werden, so spricht genau das dafür, ihn beizubehalten. Dieser Paradoxie kann sich kein Überwachungssystem entziehen. Eines der überraschendsten Beispiele ist die Aktion dieses Menschenrechtsaktivists, der sich mit Proxy-Servern in Pakistan englische Literatur zugeschickt hat und verdächtigt wurde, weil James Joyce und Gerard Manley Hopkins Sätze schrieben, die schwer verständlich sind (aber offensichtlich keine geheime Botschaft enthalten, weil es klassische Texte der englischen Literatur sind).
  5. Ausschluss und Intransparenz
    Überwachung hat mit digitaler Kommunikation grundsätzlich nichts zu tun – es gab sie schon immer. Die Nachbarinnen und Nachbarn, die mitbekommen, wann wir streiten, Sex haben, nach Hause kommen, kochen, die Toilette benutzen; die Unternehmen, die unsere Bedürfnisse decken; die Archive, die unser Wissen sammeln: Sie alle überwachen Menschen und verletzen ihre Privatsphäre. Aber in der Regel ist uns das Ausmaß und die Funktionsweise dieser Überwachung bewusst: Ich weiß, dass die Verkäuferin im Dorfladen mitbekommt, wie gesund ich mich ernähre, wie oft ich Kondome kaufe und was meine Nachbarinnen und Nachbarn über mich denken; und ich habe eine Vorstellung, wie sie mit diesem Wissen umgeht. – Die NSA-Überwachung und ähnliche Systeme in Europa haben diese Eigenschaft nicht: Wir können nicht einsehen, welche Informationen der Staat oder Geheimdienste über uns sammeln, wofür sie verwendet werden und mit welchen anderen Datenbanken sie verbunden werden. Die Verkäuferin im Dorfladen weiß plötzlich auch das, was meine Ärztin weiß, meine früheren Lehrpersonen über mich wissen, sie ist auch mein Sachbearbeiter bei der Bank und auf dem Steueramt. Ihr Wissen ist aber dennoch lückenhaft und blendet vieles, was für das Verständnis meiner Motive und Handlungen wichtig ist, aus. Die Verkäuferin nutzt nun dieses verzerrte, aber vernetzte Wissen – um im Bild zu bleiben – für beliebige Zwecke: Sie entscheidet aufgrund meiner Einkäufe, ob ich einen Fahrausweis bekommen soll, mich für einen bestimmten Beruf eigne oder ob ich einen Blog führen darf oder nicht. Kurz: Daten werden verzerrt, aggregiert und für sekundäre Zwecke verwendet.
Surveillance, Dustin Davis
Surveillance, Dustin Davis

(6) Regeln biegen, Regeln brechen

Im aktuellen Spiegel (pdf) sagt Snowden im Interview:

Aufgabe der NSA ist es, von allem Wichtigen zu wissen, das außerhalb der Vereinigten Staaten passiert. Das ist eine beträchtliche Aufgabe, und den Leuten dort wird vermittelt, dass es eine existentielle Krise bedeuten kann, nicht alles über jeden zu wissen. Und dann glaubt man irgendwann, dass es schon in Ordnung ist, sich die Regeln etwas hinzubiegen. Und wenn die Menschen einen dann dafür hassen, dass man die Regeln ver- biegt, wird es auf einmal überlebenswichtig, sie sogar zu brechen.

Und der Sicherheitsexperte Jacob Appelbaum fügt hinzu:

Die Vorstellung, es sei in der Tat das Recht, das darüber entscheidet, was passiert und wie es passiert, trifft nicht zu; in Wirklichkeit ist es die Technologie, sind es die Hardware und die Codes. […]

Heute zieht beinahe jeder eine Datenspur hinter sich her, die manipuliert und verdreht werden kann. Firmenvorstände wissen um diese Machtdynamik, und nur wenige wagen es aufzumucken – falls es überhaupt einige wagen und falls es überhaupt welche gibt, die das Spiel durchschauen.

Das heißt: Auch wenn wir davon ausgehen, dass ein umfassender Überwachungsapparat gewollt und legitimiert ist, und auch wenn wir sicherstellen könnten, dass er keine Fehler macht und sauber arbeitet – beides ist höchst unwahrscheinlich – selbst dann wird er seinen Rahmen erweitern, Gesetze hinbiegen und sie schließlich brechen. Die Überwachung selbst schafft neue Möglichkeiten, die letztlich die Bedingungen verändern, unter denen wir leben und entscheiden. Überwachung ist als System autopoietisch: Sie legitimiert sich selbst und weitet sich aus. Wenn Daten gesammelt werden, werden sie auch benutzt – und meist nicht mehr für das, wofür sie gesammelt worden sind.

Geht es in der heutigen politischen Diskussion um Sicherheit, um Terroristinnen und Kinderschänder, so befasst sich das System schon mit Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. Überwachung ist falsch, weil sie verändert, wie wir alle handeln und wie wir alle entscheiden.

9 Kommentare

  1. Anonymous sagt:

    Was ist pro und kontra

  2. HURRAY! cana?t balladeer. by virtue of himself by what name highly.

  3. Was passiert, wenn Bürokratien Daten sammeln, zeigten Beispiele aus der Fichenaffäre. Da wurde noch mit Hilfe von Spitzeln und direkter Verfolgung von verdächtigen Personen überwacht und Akten angelegt.
    Ein Beispiel wie man etwas völlig falsch interpretieren kann, zeigte der Fall von zwei Menschen, die einen toten Briefkasten benutzten. Sie war die Frau eines hochrangigen Chemiekonzernchefs, er ein hochrangiges Kadermitglied des Konkurrenzunternehmens. Monatelang wurde von den Staatsschützern beobachtet und notiert, wie die beiden Briefe füreinander an einem geheimen Ort ablegten.Solche Orte nannte man damals tote Briefkästen. Man hielt das ganze für eine Wirtschaftsspionage von immensem Ausmass. Nach Monaten der Überwachung kam dann endlich einer dieser Staatsschützer auf die Idee (oder erhielt von oben die Erlaubnis) sich den Inhalt des toten Briefkastens anzuschauen. Darin lag ein Liebesbrief. Die zwei verdächtigen Personen hatten miteiander einfach eine heimliche Liebesaffäre.
    Man stelle sich vor, was heute aus unseren gesammelten digitalen Daten so alles herausgelesen und hineininterpretiert werden könnte, bevor jemand genauer nachfragt.

  4. Anna Jobin sagt:

    Tolle Zusammenfassung, merci. Zum Thema passend fand ich auch den Artikel Why Believing ‚Nothing to Hide‘ Leaves You Vulnerable von danah boyd, der gleich mehrere Deiner Punkte bestätigt.

    1. Balise sagt:

      People noalmlry pay me for this and you are giving it away!

  5. seminym sagt:

    Mein Gedanke zu (4) „Das System braucht Daten“:

    Interessant ist auch der systemische Unterschied zw. den USA und der CH: Wir kennen eine Meldepflicht (es irritiert mich wirklich sehr, dass es das in den USA nicht gibt), unser Staat weiss also von Beginn weg viel mehr über uns, als der amerikanische Staat (vorgeblich) über seine Bürger. Ebenso: Unsere Steuererklärung wird angeschaut – jede einzelne (natürlich mit unterschiedlichem Zeiteinsatz…), in den USA: Fehlanzeige bzw. kleine Stichprobe mit grosser Strafandrohung.

    Auch unser System ist demokratisch legitimiert – wir haben diese „Überwachung“ sozusagen selbst gewählt, selbst angeordnet. Und die Vorteile sind doch unbestritten, oder möchte jemand ernsthaft auch hier mittels Fahrzeugregistern ermitteln wer denn nun Wahl-/Stimmberechtigt ist oder Unterstützungsgelder erhält?

    Vielleicht stimuliert gerade die absolute Freiheit (die ja doch auch seinen Reiz hat) den Staat zu einer gewissen übertriebenen „Neugierde“. (Wobei die Fichenaffaire eine solche Argumentation schon widerlegt hat)

  6. Prima Aufsatz. Danke!
    Auf deine früher gestellte Frage heute („Schreibe darüber, was das grundlegende Problem an der digitalen Überwachung ist. Was ist es eurer Meinung nach?“) war ich versucht ganz naiv und unüberlegt und unscharf zu antworten: Weil ich gerne (vom Staat) gefragt werden möchte, wenn er etwas von mir will. Und weil mein Vertrauen in die Lauterkeit des Staates jetzt definitiv erschüttert ist (auch wenn der Ausdruck „Lauterkeit“ für einen Staat wahrscheinlich unadäquat ist).
    In deiner Analyse finde ich aber das entscheidende Argument, das ich „eigentlich“ gemeint habe: Es ist dein Schlusssatz: „Überwachung ist falsch, weil sie verändert, wie wir alle handeln und wie wir alle entscheiden.“
    Ganz genau.
    Jetzt ist es, als sässe der Inspektor in all unseren Unterrichtsstunden mit Gyges‘ unsichtbar machendem Ring am Finger – sässe nicht nur dort, sondern würde uns auch als unsichtbarer Schatten durch unser Leben folgen, „auf all unseren Wegen“.
    Also kann ich einmal mehr nicht umhin Kafka zu zitieren (der Mann war auch sowas von Prophet) – diesmal den Beginn des Textes „Der Prozess“: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ – Verhaftet sind wir noch nicht, aber überwacht. Vielleicht. Wer ist wohl das Gericht?

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