Kochen Diskussionen immer wieder ähnlich hoch, könnte man davon ausgehen, dahinter stecke ein tiefgreifendes Problem. Hat man es verstanden, merkt man zwei Dinge: Erstens kann das Problem erklären, weshalb auf allen Seiten Empörung entsteht. Zweitens dienen die ähnlich ablaufenden Diskussionen dazu, das Problem zu verstecken, eine Lösung zu verhindern.
Exemplarisch können wir das aktuell am Thema »Sportunterricht« sehen, das z.B. auf Twitter und im Blog von Jan-Martin Klinge zu Diskussionen geführt hat, die es in regelmäßigen Abständen in ähnlicher Form gibt.
Ausgangspunkt ist eine Kritik am Sportunterricht, aktuell zum Beispiel die:
Diese Kritik wird dann – in digitalen wie analogen Gesprächen unter Lehrenden – meist abgewehrt, oft mit folgenden Entgegnungen:
- diese Kritik hört man immer wieder, sie wird nicht zum ersten Mal vorgebracht
- die Kritik ist überzogen (»Bashing«)
- die Kritik stammt von übermäßig empfindlichen Personen (»Snowflakes«)
- die Kritik stammt nicht aus der Perspektive von Sportlehrpersonen, die etwas vom Fach verstehen
- erfolgreiche und zufriedene Schüler*innen zeigen, dass die Kritik falsch ist.
Für mich ist es verständlich, dass Lehrpersonen dazu neigen, die Kritik zurückzuweisen: Sie hören von Schüler*innen, Eltern und Journalist*innen immer wieder Beanstandungen, die ihnen das Leben schwer machen. Sie müssen ihre pädagogischen Entscheidungen, ihren Unterricht immer wieder verkaufen. Gleichwohl müssen wir lernen, diesen Reflex zu überwinden.
Jan-Martin schreibt in seinem Text:
Ich glaube, dass jeder Unterricht ganz maßgeblich von seiner Kultur geprägt wird. Darf man Fehler machen? Darf man sich gegenseitig unterstützen? Haben wir als Klasse ein gemeinsames Ziel? Das sind die entscheidenden Dinge. Und dann kann ich auch Völkerball spielen. Oder Kinder an der Tafel falsch rechnen lassen. Oder schiefe Aufsätze präsentieren. Das ist Schule, an die ich mich erinnere. Und es ist Schule, wie ich sie zu gestalten versuche.
Völkerball? Nichts hat mich so gedemütigt
Mit dem doppelten Verweis auf den eigenen Unterricht und den biografisch als Schüler erlebten Unterricht wird die Kritik zurückgewiesen. Und genau dadurch wird ein Problem unsichtbar gemacht, das den Kern von Bildungsungleichheit darstellt.
Aus bestimmten Perspektiven erscheint eine bestimmte Form von Sportunterricht als demütigend, abwertend, unfair. Aus anderen Perspektiven nicht.
Die oben beschriebenen Reaktionen von Lehrenden sagen nun: Die kritischen Perspektiven sind entweder falsch oder unwichtig. Und das ist der Kern dessen, was hier verhandelt wird: Wer fordert, man möge doch Turnlehrer*innen anhören, wenn es um Völkerball geht, sagt damit nichts anderes als »Die Perspektive von leidenden Schüler*innen ist weniger wichtig als die von Lehrpersonen, die möglicherweise dieses Leiden erzeugen.« Wer darauf verweist, dass es Schüler*innen gibt, die im Sport tolle Erfahrungen machen, sagt damit ebenfalls: »Blenden wir doch andere Perspektiven aus.«
Doch das dürfen wir Lehrpersonen nicht. Unser Unterricht ist für alle, er ist verpflichtend. Er darf sich nicht einseitig an denen orientieren, die davon profitieren. Er darf die nicht abwerten, die schlechte Erfahrungen machen. Und er darf nicht Ideale mit der Realität verwechseln.
Jan-Martin Klinge möchte gern einen Unterricht gestalten, in dem sich Schüler*innen unterstützen, einander Fehler verzeihen – und eine gute Unterrichtskultur herrscht. Möglicherweise gelingt ihm das (könnte wohl abschließend nur aus der Perspektive der Schüler*innen beurteilt werden). Mir gelingt es oft nicht. Schüler*innen lassen andere im Stich, ich bemerke als Lehrer ihre Bedürfnisse nicht, der Unterricht entwickelt sich entlang der Perspektive von Privilegierten wie mir, deren Familien vom Bildungssystem seit Generationen profitieren.
Wenn uns andere, kritische Perspektiven begegnen, sollten wir offen und reflektiert damit umgehen. Uns anhören, was Menschen sagen, was sie belastet, was sie ändern möchten. Sie zurückzuweisen, uns über sie lustig zu machen, auf idealen Unterricht verweisen – das sind aus meiner Sicht Haltungen, mit denen Machtverhältnisse bewahrt werden sollen, mit denen Gruppen von Menschen daran gehindert werden, sich und ihre Bedürfnisse einzubringen.
(Hier findet man eine spannende Studie dazu, dass Macht Menschen daran hindert, andere Perspektiven wahrzunehmen…)
Edit: Einige Formulierungen angepasst, vgl. diese Diskussion.
Edit: Habe Screenshots von Tweets gelöscht, weil gebeten wurde, das zu tun.