Student Shaming – ein Problem im (digitalen) Lehrer*innenzimmer

In den 1960er Jahren war der Begriff »sexuelle Belästigung« in den USA noch nicht weit verbreitet […]. Eine Belästigung, beispielsweise am Arbeitsplatz, konnte als Flirt oder gar Kompliment aufgefasst werden: Der belästigende Chef war sich keiner Schuld bewusst und profitierte vom fehlenden Verständnis, während die belästigte Angestellte weder das Geschehene benennen noch Maßnahmen ergreifen konnte, um sich künftig zu schützen. Ihre Erfahrung war nicht existent.

Kübra Gümüşay, Sprache und Sein (S. 46)

Ich habe heute diesen Gedanken von Gümüşay mit einer Klasse diskutiert. In der Analyse weiterer Beispiele aus der Klasse, z.B. »Femizid«, ist uns bewusst geworden, dass die Erfahrungen durchaus auch existieren, wenn sie nicht benannt werden – sie können jedoch nicht als strukturell und berechtigt ausgewiesen werden.

Das haben wir auch am Beispiel von Student Shaming ausgeführt: Damit wird ein Verhalten von Lehrpersonen bezeichnet, die sich über Schwächen oder Regelverstöße von Schüler*innen lustig machen. Das kann vor der Klasse oder hinter verschlossenen Türen im Lehrer*innenzimmer passieren – oder auch halb-anonym auf digitalen Plattformen. Lehrpersonen erzählen sich dumme Sätze, welche Schüler*innen geäußert haben, empören sich über Frechheiten von Lernenden oder tauschen sich über Fehler und Faulheit junger Menschen aus.

Aus der Sicht von Lehrpersonen ist Student Shaming oft ein Ventil: Es ist anstrengend und belastend, junge Menschen zum Lernen zu bringen. Viel Engagement verpufft, weil es ignoriert wird. Gute Absichten haben weniger Erfolg als gewünscht. Sich mit Kolleg*innen darüber auszutauschen, entlastet, es befreit.

So weit, so verständlich. Doch es gibt zwei grundsätzliche Probleme damit, die Joshua Eyler in einem lesenswerten Essay herausgearbeitet hat: Erstens erzeugen sie ein Bild von einer Opposition zwischen Lehrenden und Lernenden, das nicht mit dem Bild einer Lehrperson zu vereinbaren ist, deren primäres Ziel darin besteht, jungen Menschen bei ihrer Entwicklung zu unterstützen. Zweitens zeigen Lehrpersonen, die Student Shaming betreiben, keine Bereitschaft zu verstehen, weshalb Lernende Fehler machen, gegen Regeln verstoßen, die Hausaufgaben nicht erledigen etc. In Eylers Worten:

Even anonymized, these stories are embarrassing and give the impression that faculty constantly see themselves in opposition to students. Such narratives about students are often little more than straw men used for rhetorical effect, but they convey a powerful message to readers, especially any student readers: despite the stated desires of faculty members to help students, here is what we really think.

We can talk about teaching and student success without cherry-picking anecdotes that demean those who populate our classrooms. Stories of individual, anonymous students can only polarize, because they lack nuance.

That brings me to the second issue presented by student-shaming essays: these authors don’t seem to make an attempt to understand where the students are coming from.

In digitalen Foren verstärkt sich das Problem: Der Kontext fällt auf allen Seiten weg. Wenn ich in ein Lehrer*zimmer komme und mir kurz Luft verschaffe, dann wissen meine Kolleg*innen, dass ich in der Regel wohlwollend und pädagogisch verantwortungsvoll agiere: Das Student Shaming ist in diesem Fall eine Ausnahmesituation. Der Tweet mit dem Fehler einer Schülerin, der viral geht, ist in keinen Kontext eingebunden: Er erzeugt bei unbeteiligten Leser*innen den Eindruck, dass Lehrpersonen sich über Lernende lustig machen – und er demonstriert, dass hier jemand gar nicht verstehen will, warum die Schülerin einen Fehler gemacht hat.

Student Shaming ist eine Versuchung – es ist nicht nur entlastend, sondern auch verbindend: Lehrpersonen finden so Themen, um Small Talk zu betreiben, sich auszutauschen. Wir müssen dieser Versuchung aber widerstehen. Einen Begriff dafür zu haben, dürfte wie bei Mansplaining helfen: Schüler*innen tragen nicht die Schuld an ihren Fehlern und Verstößen, sie sind nicht unserer Gegner. Unsere Aufgabe ist es, ihnen zu helfen.

Ergänzung: Dieser Zeit-Artikel zur Beschämung an deutschen Schulen ergänzt meine Ausführungen.

Bild: novex.ch

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