Aufnahmeprüfung – warum losen die fairste Alternative ist

Im März finden in Zürich die Aufnahmeprüfungen ans Gymnasium statt. Wer die Modalitäten nicht kennt: Kinder in der 6. und 8./9. Klasse schrieben Prüfungen in Deutsch und Mathematik (teilweise auch Französisch), in denen Aufgaben gestellt werden, die nicht alle im Lehrplan enthalten sind (und im Fach Deutsch fachdidaktisch komplett aus der Zeit gefallen sind). Aus diesem Grund sind die Kandidat*innen gezwungen, externe Kurse zu besuchen, in denen sie auf die Prüfung vorbereitet werden. Daraus ist in Zürich eine Industrie von Privatschulen entstanden. Mittlerweile bieten aber auch fast alle Gemeinden staatliche Kurse an.

Die Prüfung orientiert sich nicht an Kompetenzen, sondern vergibt eine fixierte Anzahl Plätze an die Schüler*innen eines Jahrgangs mit den meisten Punkten (die Notenskala ist nicht festgelegt, sie wird so gemacht, dass genau die richtige Zahl an Schüler*innen die Prüfung besteht). Das erste Semester am Gymnasium ist die sogenannte »Probezeit«, in der eine weitere Selektion stattfindet.

Ich habe mich mehrfach kritisch zu dieser Aufnahmeprüfung geäußert (hier eine Art Zusammenfassung). Hier möchte ich nicht die Kritik wiederholen, sondern eine einfache Alternative vorschlagen: Auslosen.

Alle qualifizierten Interessierten (die möglicherweise bestimmte Voraussetzungen erfüllen, wie z.B. gute Vornoten in bestimmten Fächern) können sich anmelden. Damit nehmen sie an einer Lotterie teil, in der die verfügbaren Plätze zufällig vergeben werden.

Die Lotterie übernimmt die Funktion der Prüfung. Sie ist im Vergleich viel einfacher durchzuführen (die Prüfung kostet sehr viel) – und auch ehrlicher: Viele Eltern und Kinder denken, die Prüfung würde sich auf bestimmte Kompetenzen beziehen. Sie wissen nicht, dass es lediglich auf den Vergleich ankommt. Zudem gibt es zwischen der Schülerin, die mit den wenigsten Punkten die Prüfung gerade noch besteht, und demjenigen Schüler, der sie mit den meisten Punkt gerade nicht besteht, keinen Unterschied bezüglich der Leistungsfähigkeit. Die Prüfung wirkt also ähnlich zufällig wie ein Losentscheid.

Nun mag man einwenden, dass das auf die besten Schüler*innen (und die schlechtesten) gerade nicht zutrifft: Zwischen ihnen gibt es in Bezug auf die Leistung an der Aufnahmeprüfung durchaus Unterschiede. Wäre es nicht unfair, Schüler*innen mit sehr guten Leistungen aufgrund eines Losentscheids nicht auf ein Zürcher Gymnasium zu lassen?

Unfair ist das System heute schon. Wer am Prüfungstag nervös ist, sich nicht spezifisch auf die Prüfungsmodalitäten vorbereitet hat, Deutsch nicht als Erstsprache gelernt hat etc. ist benachteiligt und wird ausgeschlossen. Das System legt fest, dass nur eine fixierte Anzahl von Schüler*innen aufs Gymnasium gelassen wird. Fair wäre, allen Interessierten die Möglichkeit zu geben. Das Lossystem würd das einfach deutlich machen. Es würde verhindern, dass ein systemisches Problem auf Individuen abgeschoben wird: Wer die Prüfung nicht besteht, erhält den Eindruck, daran selber Schuld zu sein, weil alle die Möglichkeiten gehabt hätten, die Prüfung zu bestehen. So ist es aber nicht: Jedes Jahr werden viele Kinder abgewiesen, die qualifiziert, begabt, talentiert wären.

In seiner Kritik der Meritokratie, The Tyranny of Merit, schreibt Michael Sandel in Bezug auf das US-College-System:

But the most compelling reasons for a lottery of the qualified is to combat the tyranny of merit. Setting a threshold of qualification and letting chance decide the rest would restore some sanity to the high school years, and relieve, at least to some extent, the soul-killing, résumé-stuffing, perfection-seeking experience they have become. It would also deflate meritocratic hubris, by making clear what is true in any case, that those who land on top do not make it on their own but owe their good fortune to family circumstance and native gifts that are morally akin to the luck of the draw.

Mir ist klar: Eine Lotterie wird die Aufnahmeprüfung nicht ersetzen, weil das System gerade nicht zeigen soll, wie ungerecht es wird. Es wird weiterhin Kinder diskriminieren, obwohl sie dafür nichts können – und ihnen einreden, die Benachteiligung sei ihr eigenes Verschulden.

dylan nolte, Unsplash

2 Kommentare

  1. Manuel sagt:

    Ich sehe Deinen Punkt, aber Auslosen halte ich für noch ungerechter. Eine Prüfung, auf die man sich vorbereiten muss, zeigt wenigstens, ob man auf ein Ziel hinarbeiten und neuen Stoff lernen kann. Ungerecht ist es natürlich, wenn ein Teil der Kandidaten sich allein zu Hause vorbereiten muss und ein anderer Teil einen Vorbereitungskurs besuchen kann.

    Anderer Vorschlag: Wäre es nicht besser, die Plätze nicht anhand von Wissen, sondern von Können zu verteilen? Für die Lehre gab es zumindest früher „Basic Checks“, in denen Aufgaben wie in IQ-Tests gestellt wurden: Würfel abwickeln, auf einem Blatt mit „p“ und „q“ möglichst viele „p“ in kurzer Zeit markieren, Zahlenreihen fortsetzen etc. Alles Sachen, die Fähigkeiten und Potenzial zeigen und nicht, wie gut man vorbereitet war.

    Wenn ich Schnupperlehrlinge bewerte, sind die Schulnoten nur ein kleiner Faktor. Zu unterschiedlich ist die Notengebung je nach Lehrperson und genormte Abschlussnoten liegen noch nicht vor. Viel wichtiger ist, wie die Jugendlichen an Aufgaben herangehen. Verzweifeln sie bei der ersten Hürde? Trauen sie sich, zu fragen? Arbeiten sie im Team zusammen? Alles Sachen, die man nicht durch „büffeln“ erwirbt.

  2. Leonardo sagt:

    Hi Philippe,
    kühner Vorschlag. Ich hänge gedanklich noch an zwei Punkten fest:
    Diese (nach deiner Beschreibung auch in meinen Augen ungerechte) Prüfung scheint eines zu können: aussortieren, wer fürs System lernen kann und wer nicht. Das muss man auch im späteren System können (unabhängig davon, wie ich es finde) und deswegen tut man denjenigen keinen Gefallen, die per Los reinkommen dann aber nicht ins System passen und es die ganze Zeit und schlimmstenfalls dann mit „Durchgefallen“ bei der Abschlussprüfung zu spüren bekommen.
    Zweitens weiß ich noch nicht, ob eine Lotterie nicht demotivierender ist als eine Prüfung, von der viele Glauben, dass sie „etwas mit der Leistung zu tun hätte“ (um dich sinngemäß zu zitieren). Erfahrung und Resilienz baut man doch auf, indem man Hürden erfolgreich nimmt und nicht einfach zufällig irgendwo reinkommt. Auch an Schwachsinnshürden kann man reifen, sei es, dass man sich nur das Bulimielernen angeeignet hat – um es polemisch auszudrücken.

    All das ist jedoch hinfällig – da bin ich wohl bei dir – wenn das Gesamtsystem anders gestaltet wäre: gerechter, kompetenzorientierter und mit mehr Ressourcen, damit alle fähigen Schüler:innen auch ausgebildet werden könnten.

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