Am Wochenende habe ich auf Twitter und Facebook diesen Artikel diskutiert, der dokumentiert, dass TikTok-User*innen Jugendliche spielen, die im Holocaust ermordet worden sind oder werden. Im Folgenden beschreibe ich das Phänomen und kommentiere es. Gemäß einem Wired-Artikel verstoßen die Videos nicht gegen die Regeln von TikTok und werden nicht gelöscht.
POV-Videos auf TikTok
Die Videos nehmen ein Verfahren auf, das sich Point-Of-View oder POV nennt. Dabei spielen nicht nur die gefilmten Figuren eine Rolle, sondern auch die Zuschauer*innen nehmen eine Perspektive ein, die ihnen im Video zugewiesen wird.
Die witzigen Videos von Nicole Ciravolo, welche die Schulsekretärin Ms. Connie spielt, die verständnisvoll auf queere Jugendliche reagiert, sind ein gutes Beispiel: Andere TikTok-User*innern reagieren auf die Videos von Ciravolo, indem sie die für die Zuschauer*innen gelassene Rolle ausfüllen – im Original macht die Schauspielerin Pausen.
Die Holocaust-Videos funktionieren nach diesem Schema. Die Jugendlichen schminken sich mit Bühnenschminke und spielen eine Rolle. Wer ihnen zuschaut, übernimmt automatisch auch eine Rolle (diese ist nicht immer gleich).
#museumofdeath
Die pov-Videos folgen oft Inspirationen. Diese sind Memes oder Challenges, die sich wie Writing Prompts durchsetzen: Wer nach Ideen für ein Video sucht, kann einfach eine solche Idee aufgreifen. Userin emmanortss beschreibt #museumofdeath wie folgt:
Die Vorstellung, pov-Videos mit sterbenden Figuren zu machen, hat sich also schon länger auf TikTok verbreitet (vgl. #museumofdeath). Weshalb hat sie sich auf Holocaust-Opfer ausgedehnt?
Einschätzungen von Jugendlichen
Wired hat mit Jugendlichen über die Holocaust-TikTok-Videos gesprochen. Ihre Statements enthalten grundsätzlich vier Aussagen:
- Jugendliche müssen stärker über den Holocaust und Antisemitismus aufgeklärt werden.
- Die Videos können aber auch ein Weg sein, um Jugendliche für den Holocaust zu sensibilisieren.
- Die Videos sind primär ein Weg, um »fame« zu erhalten, Aufmerksamkeit zu generieren.
- Es spielt eine Rolle, ob jüdische oder nicht-jüdische Teenager diese Videos drehen. Stellen sie für Jüd*innen möglicherweise eine legitime Form der Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte dar, handelt es sich bei nicht-jüdischen User*innen um eine widerliche Romantisierung des Holocausts.
Aufmerksamkeit
Rabbit Hole, ein Podcast über Netzkultur von der New York Times, erzählt in den Folgen 5 und 6 die Geschichte des Youtuber PewDiePie, der antisemitische Parolen und Aussagen genutzt hat, um sich von etablierten Medien zu distanzieren und noch bekannter zu werden. Antisemitismus und der Holocaust erscheinen als inhaltliche Grenzen, deren Erscheinungen mit hohem Risiko verbunden sind, weil ihre Überschreitung zu einer gesellschaftlichen Ächtung führt. Weil diese aber vom Mainstream ausgeht, ist damit auch Anerkennung von einem Netzpublikum verbunden. Beides – Ächtung und Anerkennung – führen zu Aufmerksamkeit, die in einer Aufmerksamkeitsökonomie einen Wert hat.
Das Wilkomirski-Syndrom
Bruno Dössekker hat 1995 unter dem Pseudonym Binjamin Wilkomirski eine gefälschte Autobiographie veröffentlicht. Er gibt darin vor, litauischer und jüdischer Abstammung zu sein und als Kind durch Ghettos und KZs verschleppt worden zu sein – was nachweislich nicht stimmt. Das damit verbundene Syndrom – das durchaus umstritten ist – besteht darin, dass Dössekker sein erlebtes Leid (er war ein uneheliches Kind, das zur Adoption freigegeben wurde) durch die Erfindung einer jüdischen Biografie einen Sinn erhielt, zumal damit die Geschichte eines Identitätsdiebstahls verbunden war.
Etwas Ähnliches zeigen wohl diese Videos: Jugendliche können ihr Leiden am Leben (worin auch immer es besteht) versinnbildlichen, indem sie in die Rolle von Holocaust-Opfern schlüpfen. In den spielerischen Formen der POV-Ausdrucksweise und der TikTok-Schminke suchen sie nach einer Identität, deren Leiden kulturell anerkannt und respektiert ist.
(Der Begriff Syndrom soll dabei anzeigen, dass das nicht eine sinnvolle Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität ist, sondern eine pathologische.)
2020
Der Holocaust konnte vor 75 Jahren gestoppt werden. Nur wenige Zeitzeug*innen leben noch. Auf TikTok wird etwas inszeniert, was fast nur noch medial wahrnehmbar ist. Das ist wohl kein Zufall.
Ich danke Sarah Fluck, Adriane Langela und Rebecca Sanders für Hinweise, die ich in diesem Beitrag verarbeitet habe.