Nachdem ich kürzlich vorgeschlagen habe, Schulen immer wieder neu zu gründen, um sie agiler zu machen, wurde mir gestern vorgeworfen, ich verstünde nicht, was »agil« bedeutet und würde Ideen mit dem Label versehen, die dem Konzept grundsätzlich widersprächen.
Das ist ein guter Anlass, um etwas genauer zu überlegen, was Agilität für Schule und Bildung bedeuten. Grundsätzlich meint es »Anpassungsfähigkeit«, ein aktiver, gestaltender und flexibler Umgang mit Veränderungen.
Die zentralen Formulierungen finden sich im »Manifest für Agile Softwareentwicklung«. In der deutschen Version lautet es wie folgt:
»Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen.
Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt:
Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge
Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation
Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung
Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans
Das heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden,
schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.«
Matthias Förtsch und Friedemann Stöffler haben in ihrem Buch »Die agile Schule« eine Adaption des Manifests vorgenommen.

Folgt man der Nummerierung der Verfasser, so kann man mit Blick auf das Schule als Ganzes noch einige Ergänzungen vornehmen oder Akzente anders setzen (Förtsch und Stöffler nehmen die Perspektive der Schulentwicklung ein):
- Individuen und Interaktionen sind wichtiger als…
…Lehrpläne, Stundenpläne, Bildungspläne
…didaktische Methoden
…Gepflogenheiten und Routinen an einer Schule - Funktionierende Lernprozesse…
Langfristiges Lernen…
Soziale Gerechtigkeit…
Die Bedürfnisse aller am Schulleben beteiligter…
…ist wichtiger als…
…Bewertung
…Zertifikate
…Bearbeitung von Stoff - Zusammenarbeit mit allen am Schulleben Beteiligten ist wichtiger als…
…das Image der Schule nach außen
…politische Erwartungen an die Schule - Gestalten von Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans.
Das Kernproblem der gestrigen Diskussion war aus meiner Sicht folgendes: Wenn nun Schulen gegen viele Widerstände daran arbeiten, dass Hierarchie, Reglemente, Dokumentation, Zuständigkeiten, Pläne etc. weniger prägend sind, Individuen, Zusammenarbeit, Veränderung, Lernen, Schulleben hingegen eine größere Rolle spielen – dann wird es in der Bildungspolitik und in den Kollegien und bei den Eltern und unter den Schüler*innen Widerstand geben. Nicht alle möchten Schule agil gestalten. Der Status Quo entspricht Menschen, die sich an nicht-agilen Schulen wohlfühlen oder sich da eingerichtet haben.
Damit lässt sich nun ein genereller Einwand gegen einen Prozess hin zu mehr Agilität formulieren: «Diese Individuen sind doch wichtiger als eurer agiler Prozess, steht ja so im Manifest!«
Diesem Einwand kann man auf drei Arten begegnen, denke ich:
- Agile Prozesse werden in Schulen in Nischen eingeführt, die Teilnahme ist freiwillig. Besonders beliebt ist etwa die Möglichkeit, im Unterricht agil zu arbeiten. Das kann man dann den Lehrer*innen überlassen, die das machen können oder nicht. Genau so geht das in bestimmten Projekten, in Schulversuchen etc. Wer damit ein Problem hat, muss es nicht machen. Von diesen ersten Erfahrungen aus kann eine Schule langsam agiler werden, quasi bottom up.
- Lass uns mal eine radikale Idee ausprobieren – und dann/dabei auf die Bedürfnisse alle Beteiligter achten, nicht vorher. »Gestalten von Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans.«
Beispiel: Lass uns Unterricht freiwillig machen – wer nicht im Schulzimmer lernen will, kann sich an anderen Orten im Schulhaus aufhalten und dort lernen, reden, lesen, zocken… - Man kann sich wünschen, agil zu werden, aber den Ängsten und Verhinderungsdiskursen so viel Raum geben, dass sich nichts ändert.
Mein Vorschlag, Schulen als befristete Projekte zu denken, ist ein radikaler Vorschlag. Ja, er bricht mit der Erwartung von Lehrkräften, Lebensstellen an Schulen zu haben. Ja, er bricht mit der Erwartung von Eltern und Kindern, dass einzelne Lehrer*innen einzelne Schüler*innen möglichst lang und konstant begleiten.
Nur: Es gibt halt keine Agilität in nicht-agilen Systemen. Schulen werden nicht anpassungsfähig, wenn das behauptet wird. Können sie anpassungsfähig werden, wenn das im Kleinen begonnen wird und von da aus wächst? Ich weiß es nicht und bin wohl skeptischer und ungeduldiger als andere. Aber ich regle ja nichts, ich kann Veränderungen nicht verordnen: Sie müssen sich ergeben.
Hat dies auf Der Gedankentopf rebloggt und kommentierte:
Toller Artikel und kann in vielen Punkten nur zustimmen. Auch in der Arbeitswelt müssen wir rauskommen aus dem alten Bildungsdenken, indem die Lehrenden zu Lerncoaches erwachsen. Es gibt immerhin schon einige alte pädagogische Ansätze die im Grunde dem agilen Gedanken durchaus entsprechen –> siehe Montessori und Co. Ich denke zudem, dass es an der Zeit ist mal auszumisten, denn häufig wird dokumentiert um des dokumentieren Willens ohne darüber nachzudenken ob daraus auch Erkenntnisse für ein Weiterentwicklung bzw. Qualitätssicherung damit einhergehen.
Toller Artikel und kann in vielen Punkten nur zustimmen. Auch in der Arbeitswelt müssen wir rauskommen aus dem alten Bildungsdenken, indem die Lehrenden zu Lerncoaches erwachsen. Es gibt immerhin schon einige alte pädagogische Ansätze die im Grunde dem agilen Gedanken durchaus entsprechen –> siehe Montessori und Co. Ich denke zudem, dass es an der Zeit ist mal auszumisten, denn häufig wird dokumentiert um des dokumentieren Willens ohne darüber nachzudenken ob daraus auch Erkenntnisse für ein Weiterentwicklung bzw. Qualitätssicherung damit einhergehen.
Lieben Gruß,
Martina
Völlig d’accord, Philippe Wampfler! Das ist auch der Grund, weshalb wir die Hochschule für agile Bildung (hfab.ch) gegründet haben.