Im Kanton Zürich wird der Zugang zum Gymnasium über eine problematische Aufnahmeprüfung geregelt: Sie ist sozial ungerecht, zumindest im Fach Deutsch nicht an zeitgemäßen Kompetenzen und Prüfungsformaten ausgerichtet und wird nicht transparent benotet. Ich muss diese Prüfung korrigieren. Dennoch kritisiere ich sie – öffentlich. Als Reaktion darauf habe ich schon mehrmals gehört, die Kritik sei ja berechtigt, aber ob ich sie nicht einfach intern formulieren könne – dafür gebe es ja Möglichkeiten. (Mittlerweile habe ich sogar einen Vorschlag ausgearbeitet, der aber »aus Gründen« nicht umgesetzt werden kann.)
Öffentliche Kritik erzeugt Druck und Stress. Sie erzwingt Rechtfertigungen von Verantwortlichen. Zuerst interne, persönliche oder nicht öffentliche Wege zu beschreiten erscheint als gemäßigtere, konstruktivere Version. Besonders auch deshalb, weil öffentliche Aussagen schnell zu Missverständnissen führen: Aussagen werden aus dem Kontext gerissen, zugespitzt oder sogar verdreht. Schon nur komplexe Sachfragen richtig darzustellen, erfordert dann viel Aufwand, der nicht nötig wäre, wenn die Diskussion nicht in der Öffentlichkeit erfolgen würde.
Ob also Kritik in die Öffentlichkeit gehört, hängt vom konkreten Problem und weiteren situationsabhängigen Sachfragen ab. Meine Kriterien sind folgende:
- Ist die Kritik produktiv – d.h. ist es denkbar, dass eine Äußerung dazu führt, dass eine Lösung gefunden wird? Falls das nicht so ist, sollte sie gar nicht geäußert werden – weder öffentlich noch nicht-öffentlich.
- Geht es um persönliche Konflikte, dann sollten sie nur dann öffentlich ausgetragen werden, wenn sie
a) schon öffentlich sind oder
b) eine öffentliche Person betreffen. - Sachbezogene Kritik muss öffentlich formuliert werden, solange keine berechtigten persönliche oder organisatorische Anliegen das verhindern.
- Geht es um Fragen, die in einem demokratischen Prozess ausgehandelt werden (sollen), ist der öffentliche Weg der einzig vertretbare.
Der Reflex, zuerst Backchannels zu verwenden, ist meines Erachtens verheerend: Er verhindert oft Transparenz und verunmöglicht es, Anschlüsse zu generieren. Zu sagen: »Hier gibt es ein Problem, das wir lösen müssen«, wirkt auf den ersten Blick belastend, beängstigend. Dazu zu stehen, beansprucht Ressourcen. Das aber immer zu machen, setzt Ressourcen frei. Sich zu überlegen, wer was wissen darf und könnte – im Bewusstsein, dass ohnehin alle über alles miteinander reden, nur halt nicht öffentlich – hat einen hohen Preis.
Kritik bahnt sich ihren Weg. Hat sie Gewicht, spüren das nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Öffentlichkeit. Deshalb entlastet es in der Bilanz, wenn die Geheimniskrämerei wegfällt.
