Anleitung für eine stoische Social-Media-Nutzung

Caroline Calloway ist eine Künstlerin aus New York. Sie ist »Instagram famous«: Wer eine bestimmte Nische von Instagram nutzt, kennt sie. Weshalb? Sie entwickelt in ihrem Profil einer Person, die wohl ein Vorbild für viele Menschen wäre. Das Profil zeigt eine junge Frau, die mit Kunstprojekten ein Leben unter attraktiven und innovativen Menschen in New York bestreitet. Calloway zeigt auf ihrem Instagram-Profil jedoch nicht nur ihren Lebensentwurf – sie macht auch deutlich, dass sie ständig dabei scheitert, ihn zu erreichen. In Calloways Insta-Stories vermischen sich Ideen für neue Projekte und Entschuldigungen, weshalb die alten nicht funktioniert haben und sie Menschen enttäuscht hat.

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Die Differenz zwischen eigenen Ansprüchen und Realität zeigt sich auch bei Calloways Aussagen über ihre Social-Media-Nutzung:

You don’t owe anyone anything on your Instagram.

Diese Maxime wiederholt die Künstlerin in verschiedenen Varianten: Sie produziere kostenlosen »Content« für ihre Follower, die entsprechend keine Ansprüche äußern dürften; sie sei komplett authentisch in ihren Beiträgen und drücke direkt aus, was sie empfinde; der Hass, der ihr entgegenschlage, habe nichts mit ihr, sondern nur mit den Hassenden zu tun.

Aber einlösen kann sie diesen Anspruch nicht. Calloway liest sogar im Reddit-Forum mit, in dem zynischen Kommentare zu ihrem Instagram-Alltag gesammelt werden. Sie reagiert auf ihre »Hater« und passt ihre Beiträge so an, dass das »Engagement« auf Instagram steigt. Calloway kauft auch Follower, um den Eindruck zu erwecken, sie sei beliebter, als sie es ist. Aufschlussreich ist der erste Satz der oben abgebildeten Caption:

There is a lot of shame that swirls around in admitting YOU CARE EVEN A LITTLE BIT about social media.

Dieser Satz kann als Einleitung für das gelten, was ich im folgenden ausführen möchte: Wie man Social Media so nutzen kann, dass einem nicht egal ist, was dort passiert – es aber auch nicht zu einem Stress oder einer konstanten Quelle von Ärger wird. Ich nenne das eine stoische Social-Media-Nutzung.

Die Grundeinsicht ist dieser Satz von Epiktet:

Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen von den Dingen beunruhigen die Menschen. […] Wenn wir nun auf Hindernisse stoßen, oder beunruhigt, oder bekümmert sind, so wollen wir niemals einen andern anklagen, sondern uns selbst, das heißt: unsere eigenen Meinungen.

Epiktet, Handbüchlein der stoischen Moral

Was andere Menschen auf Social Media machen, ist für mich nur beschränkt zugänglich. Ich verstehe ihre Motive, ihre Wahrnehmungen und ihre Praktiken nur in Ansätzen (oder gar nicht). Zugänglich sind für mich lediglich, wie etwas auf mich wirkt.

Betrachten wir ein Beispiel: Was bedeutet ein Like?

Bildergebnis für fler beklagt sich bushido retweet

Ein Like kann Zustimmung, Anerkennung, Wahrnehmung, Wertschätzung bedeuten (so versteht das Fler im Zusammenhang mit Bushido). Ein Like kann aber auch ein Lesezeichen sein, jemandem anzeigen, dass man etwas gesehen hat, ein Versehen etc. Dasselbe gilt für alle anderen Handlungsmöglichkeiten in sozialen Netzwerken. Selbstverständlich gibt es gruppenspezifische Normen, die Bedeutungen festsetzen und Erwartungen rechtfertigen können. Ausserhalb solch präzise erfasster und diskutierter Regeln bin ich es aber, der den Handlungen anderer eine Bedeutung geben kann.

Wer Social Media stoisch nutzt, freut sich über Likes.

Das ist schon alles. Was diese Person aber nicht tut: Analysieren, wer die Beiträge anderer liket und daraus Schlüsse ziehen. Fehlende Likes betrauern. Unsicher werden, wenn eine bestimmte Zahl von Likes nicht erreicht wird.

Social Media erzeugen eine Aufmerksamkeitsökonomie:

Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr Bezug sticht jedes andere Einkommen aus. Darum steht der Ruhm über der Macht, darum verblaßt der Reichtum neben der Prominenz.

Georg Franck – Ökonomie der Aufmerksamkeit, Einleitung

Eine ökonomische Betrachtung eignet sich sehr gut, um zu verstehen, was ich damit meine, auf Social Media stoisch zu agieren. Ähnlich wie ich ständig überlegen kann, wofür ich wie viel Geld ausgebe, wie viel noch auf meinem Konto ist, wie ich mehr Geld verdienen könnte, kann ich aufhören zu rechnen. Für das zahlen, was ich brauche, vergessen, wie viel Geld auf meinem Konto liegt.

Genau so kann ich aufhören, Likes zu zählen, Statistiken anzuschauen, mir zu überlegen, wer meine Dinge noch verbreiten könnte. Ich kann aufhören, Social Media als ein Geschäft zu betrachten: Ich richte mein Handeln nicht danach aus, welchen Wert es in der Aufmerksamkeitsökonomie hat. Wenn ich jemandem folge, einen Beitrag like oder teile – dann erwarte ich keine Gegenleistung. Ich mache es, weil es in dieser Situation für mich einen Sinn ergibt, und zwar unabhängig von ökonomischen Gesichtspunkten.

Das ist schwierig. Und es setzt voraus, dass man auf Geld oder Aufmerksamkeit nicht angewiesen ist. Wer nicht weiß, wovon er oder sie die nächste Miete zahlen soll, kann sich nicht einfach locker machen. Genau so ist es auch im Netz: Wer ständig übersehen und ignoriert wird, kann nicht einfach stoisch werden. Eine stoische Haltung haben zu können, ist ein Privileg.

Wie gelangt man zu so einer Haltung? Hier ein paar Übungen:

  1. Keine Statistiken anschauen, außer es geht direkt um diese Statistiken. Sobald man sich dabei ertappt, wieder daran denken, dass man das nicht tun sollte. Ich schaue nicht, wie viele Menschen diesen Text lesen, liken oder weiterempfehlen.
  2. Ich reagiere aber auf Interaktionen. Mir geht es darum, mit anderen Personen im Netz ins Gespräch zu geraten. Nicht um Zahlen oder meinen Wert.
  3. Reagieren andere Menschen negativ, dann hat das mehr mit ihnen als mit meiner Person zu tun. Ich kann versuchen, in eine Gespräch einzusteigen – aber letztlich kann ich daran nichts ändern, es bedeutet auch nicht, dass ich einen Fehler gemacht habe.
  4. Ganz generell: Nichts persönlich nehmen. Was andere tun, ist in hohem Maße zufällig oder unerklärlich. Es ist nicht auf mich bezogen, wenn ich es nicht auf mich beziehe.
  5. Personen ansprechen, wenn ich etwas erwarte oder mich etwas stört. Nonmentions bringen nichts, sich verstärken meinen Ärger oder meine Unruhe, weil ich dann wieder checken muss, wer die Nonmentions gesehen und entschlüsselt hat.
  6. Die technischen Möglichkeiten nutzen: Filtern, blockieren, ausblenden, wenn etwas stört. Blockieren ist nichts Persönliches, es ist ein technischer Vorgang und einen Schutz für eine Person. Sascha Lobo hat mich auf Twitter seit Jahren blockiert – ich habe keine Ahnung weshalb, nehme aber nicht an, dass es mit mir auch nur das Geringste zu tun hat.
  7. Sich auf die Sache konzentrieren. Nie über Absichten anderer Personen reden, sie nicht für ihr Verhalten angreifen oder loben, sondern das Thema im Blick behalten.

»There is a lot of shame that swirls around in admitting YOU CARE EVEN A LITTLE BIT about social media.« – Eine stoische Haltung impliziert nicht, dass man sich schämt. Sondern dass man versucht, das Objekt seiner Care auf die Sachebene zu verlagern. Und das zu dämpfen versucht, was einen stress, beunruhigt, traurig macht. Das ist nicht einfach, aber wir können es üben.

1 Kommentar

  1. Remo sagt:

    Zum Epiktet-Zitat:
    Ja, nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen beunruhigen die Menschen. Und man könnte daraus schließen, aus Meinungen sollte man sich nichts machen müssen und könnte stoisch bleiben.

    Dies ist jedoch leider falsch.

    Denn es hat ja schließlich sehr gute Gründe, warum die Meinungen und nicht die Dinge selbst die Menschen beunruhigen.

    Worten und Gedanken (Meinungen) folgen wie der Volksmund sogar weiß, ja schlußendlich Taten.

    Sonst würden Meinungen wirklich keine solche Rolle spielen und man könnte stoisch soziale Medien nutzen.

    Daraus folgt, man kann sich kaum dem entziehen, sich auch mit Meinungen abzugeben.

    Zu den englischen Textpassagen: Ich finde immer, daß französische, lateinische, englishe oder sonstige fremdsprachige Passagen zumindest in Klammern übersetzt gehören zugunsten der Lesbarkeit.

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