Wenn ich als Deutschlehrer aktiv bin, möchte ich Menschen befähigen, sprachlich Gesellschaft zu gestalten. Verschiedene relevante Äußerungen wahrzunehmen, darüber nachzudenken – und sich so zu äußern, dass daraus eine sinnvolle Wirkung resultiert.
Wahrnehmen, nachdenken, sich äußern – das leitet mich in meinen didaktischen Entscheidungen. Was ich deshalb zu reduzieren versuche: Jede Art von Schematik oder von Rezepten.
Nehmen wir das Beispiel der Erörterung: Eine Textsorte mit einer langen Tradition im Deutschunterricht, der Bedeutung sich aber letztlich auf den Deutschunterricht beschränkt. Die Vorstellung, Texte seien nach einem Sanduhrenmodell aufgebaut, ist deutschdidaktische Hilflosigkeit. Sinnvolle Texte sind entweder so aufgebaut, dass sie dabei helfen, eine Sache gedanklich zu erschließen – oder so, dass Sie bei Leserinnen und Lesern die gewünschte Reaktion auslösen.
Wenn nun ich als Deutschlehrer der einzige Leser bin und die gewünschte Reaktion eine gute Note ist, dann habe nicht nur ich ein Problem – auch mein Unterricht ist fragwürdig und die Schülerinnen und Schüler haben auch ein Problem.
Deshalb bin ich immer skeptisch, wenn Rezepte entwickelt und verbreitet werden, in denen deutschdidaktische Handlungen damit begründet werden, dass man gewisse Vorgaben erfüllen müsse. »Deutungshypothese« ist ein Beispiel dafür: Wer so über Kultur nachdenkt, dass andere damit etwas anfangen können, wird Deutungen vornehmen. Dass in einem Text an einem bestimmten Ort eine »Deutungshypothese« stehen muss, ist dafür weder notwendig noch hilfreich.
Auf meine Haltung gibt es zwei verbreitete Einwände. Bob, den ich mit dieser Kritik auch anspreche, sagt etwa (ich formuliere seine Haltung so, wie ich sie verstehe): Es gibt diese Vorgaben nun einfach und ich kann nichts daran ändern. Ich kann Schülerinnen und Schüler nicht im Stich lassen, auch wenn ich Vorgaben nicht mag.
Eine zweite, stärkere Form dieses Einwandes lautet: Wer bist du denn, dass du dich über gesellschaftlich und demokratisch legitimierte Vorgaben hinwegsetzen kannst? Du darfst doch nicht selber entscheiden, was ein »wirkungsvoller Text« ist, das entscheidet letztlich der Gesetzgeber.
Meine Antwort: Ja, Kompromisse sind nötig. Schülerinnen und Schüler müssen leider Prüfungen bestehen und gute Noten schreiben, zu unseren Aufgaben im Deutschunterricht gehört es, sie dabei zu unterstützen. Was aber nicht passieren darf:
- Wir dürfen sie nie vergessen lassen, dass das Erfüllen von Vorgaben, deren Sinn wir nicht einsehen, ein Problem ist. Die Kritik darf nicht zu einem abgelösten, fakultativen Teil einer Übungsanlage werden, bei der wir die Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, im Hamsterrad möglichst aktiv zu strampeln.
- Demokratie ersetzt Kritik nicht und hat nicht die Aufgabe, sprachliches Handeln zu reglementieren. Menschen müssen und dürfen (gerade in einer Demokratie) selber entscheiden, wie sie Sprache wahrnehmen und einsetzen. Sie in der Schule zu bestimmten Formen zu drängen und sie zu bewerten, wenn sie standardisierte Rezepte korrekt abarbeiten können, ist gerade aus demokratischer Sicht fragwürdig. Entsprechend zwinge ich Schülerinnen und Schülern nicht meine Vorstellung davon aus, was einen Text wirkungsvoll macht: Sondern ich schaffe Lernumgebungen, in denen sie situationsbezogen erproben und reflektieren können, wie Texte wirken.

Es ist spannend, dass du gerade die dialektische Erörterung als sinnlos erwähnst. Denn natürlich ist sie das. Die dialektische Erörterung ist eine Trockenübung. In der textgebundenen Erörterung, auf die sich ja Bob gerade bezieht, wird dieses Modell auch explizit über Bord geworfen und durch das von dir geforderte ganzheitliche Erschließen eines Textes ersetzt. Ich unterrichte die Erörterung so:
– Lineare Erörterung (Klasse 7 rum): Wir erkennen den Unterschied zwischen starken und schwachen Argumenten.
– Dialektische Erörterung (Klasse 8 rum): Wir betrachten ein Thema von zwei Seiten.
– Freie Erörterung (Klasse 10 rum): Wir lösen uns von der starren Struktur und betrachten ein Thema gedanklich differenziert von mehreren Seiten und kommen zu einem begründeten Fazit.
– Textgebundene Erörterung (Klasse 11 und 12): Wir beschäftigen uns mit den Gedanken von anderen und setzen unsere eigenen in Relation dazu.
Ich finde schon, dass diese Fähigkeiten sehr wichtig und brauchbar sind. Ja, ich halte die Erörterung für die sinnvollste der Sek2-Aufsatzformen.
Ich habe das nicht mehr weiter ausgeführt, manchmal vergesse ich einen Gedanken beim Schreiben. Wollte gerade das noch hinschreiben: Argumentieren ist eine Kompetenz, meinetwegen auch das etwas sperrige Verb »erörtern«. Wenn Vorstufen helfen, hier klarer zu sehen und besser argumentativ schreiben zu können, dann habe ich nichts dagegen. Aber gerade die dialektische Erörterung ist leicht lehrbar und deshalb auch problematisch. (Die Erörterung ist ein Beispiel von mir, ist nicht auf Bob bezogen…)