Agil lehren – im Netz, an der Schule, an der Uni. Ein Gedankenanstoß

Am Barcamp #wildcampen19 habe ich in verschiedenen Zusammenhängen mit anderen Menschen zusammen über agile Didaktik nachgedacht. Hier fasse ich das zusammen, was mir nach den drei inspirierenden Tagen wichtig war – und publiziere die entstandenen Lernprodukte.

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Sketchnote 1 von Wibke Tiedmann

Was meint agile Didaktik und agiles Lehren? 

Mein Anstoß, über agile Didaktik nachzudenken, stammt von der Lektüre des Buches »Agile Hochschuldidaktik«. Christof Arn beschreibt darin Lehrerhandeln, das vom Modell eines respektvollen Gesprächs zwischen interessierten Erwachsenen ausgeht. Ein Zitat aus meiner Besprechung:

Die Idee der agilen Didaktik ist einfach: Man stelle sich vor – so Arns Beispiel ab S. 52 -, man treffe auf der Straße einen Nachbarn, der sich an dem interessiert zeigt, was man unterrichtet. Nach dem Nachtessen kommt er vorbei, um mehr darüber zu erfahren. Wie verhält man sich? »Während Sie nun erklären, um was es geht, werden Sie immer Kontakt halten. Auf keinen Fall werden Sie weiterreden, wenn Sie wahrnehmen, dass er sich nicht mehr interessieren würde! […] Sie würden stets offen sein für Fragen. Sobald sie denken, er könnte etwas fragen, erwidern, ergänzen wollen, würden Sie innehalten und dafür Raum geben. Je mehr sich das Ganze zu einem Gespräch entwickelt, je dialogischer es wird, vor allem dann, wenn dabei viel von der Thematik besprochen und geklärt werden kann, umso glücklicher werden Sie mit dem Abend sein.«

Orientiert man sich als Lehrender an dieser Vorstellung, dann rückt die Präsenz in den Fokus: In einer bestimmten Situation so zu handeln, dass Lernprozesse entstehen können, ist wichtiger, als sich an einer Planung zu orientieren. Lehre wird vorbereitet, aber die Vorbereitung resultiert nicht in einer Planung, sondern in der Ermöglichung dieser Präsenz. Agile Didaktik ist der Gegenpol zur Plan-Didaktik.

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Eine Konsequenz aus dieser Einsicht ist für Arn die Forderung, dass Lehrende ständige Methoden und Formen ausprobieren, ihre Wirkung mit allen Beteiligten reflektieren und sie so weiterentwickeln. Wer agil lehrt, denkt dabei stets auch darüber nach, wie Lernprozesse ablaufen, wie sie intensiviert und erleichtert werden können. So entstehen Methoden in der Lehre. Bildschirmfoto 2016-08-09 um 23.15.27

Die Vorstellung der Plan-Didaktik, Lehrkräfte müssten sich aus einem festen Methodenrepertoire für die jeweils passende entscheiden, um damit einen »Stoff« vermitteln oder »durchnehmen« zu können, wird so aufgelöst: Es gibt im agilen Denken über Lehren und Lernen die Trennung zwischen Stoff und Methode nicht mehr, der Stoff ist nicht wichtiger als die Form des Lernprozesses, sondern kann erst über die Gestaltung des Lernens erschlossen werden.

Im Folgenden verwende ich »lehren« statt »Didaktik«, weil damit ein breiteres Repertoire an Handlungen erschlossen werden kann. Selbstverständlich löst sich im agilen Mindset auch die Trennung zwischen lehren und lernen auf, weil lehren immer auch lernen ist und voraussetzt und bedingt – aber im Moment geht es mir darum, wie die Personen, die heute Unterricht verantworten, agil handeln können.

Das Problem der Ausbildung von Lehrenden

Viele Ausbildungskonzepte orientieren sich an einer bestimmten Vorstellung von Unterricht:

  • Er findet in kurzen Zeiträumen statt (45-Minuten-Lektionen).
  • Lehrende müssen »fertig werden«.
  • Lehrende müssen so vorbereitet sein, dass sie den Unterricht kontrollieren können und keine Fehler machen.
  • Zentral ist Stoffvermittlung.
  • Es muss »etwas rauskommen«.

Diese Vorstellung wird in Lehrproben oft noch einmal auf die Spitze getrieben wird, weil Plandidaktik über Noten entscheidet, die wiederum Grundlage von Anstellungen sind. Sie kommt in stärkeren und schwächeren Formen vor, je nach Schulart, Fach und Vorlieben der Verantwortlichen.

Letztlich muss sie aber überwunden werden, damit agiles Lehren stattfinden kann. Das ist deshalb schwierig, weil die Vorstellung, was eine gute Lehrerin oder ein guter Lehrer macht, stark damit verbunden ist.

Erste Schritte hin zur agilen Didaktik

Ich habe einige leichte Übungen, mit denen eine agile Haltung geübt werden kann.

  1. Die Magie des Anfangs. 
    Theo Byland hat den Anfang einer Schulstunde einen »magischen Moment« genannt. Er beschreibt ihn so:

    [Lehrerin] M [legt] den Schwamm in die an der Kreideleiste befestigte Schale, wendet sich der Klasse zu und wartet. Es ist ein lächelndes, aufmunterndes Warten. Es wird still, M und Klasse schauen sich an –

    Ich finde auch einen Anfang gut, bei dem es nicht so schnell still wird: Ich höre den Lernenden zu, die in der Pause wohl mehr lernen als im Unterricht. Ich nehme sie wahr und lasse die Atmosphäre im Zimmer auf mich wirken. Dann versuche ich am Anfang etwas aufzugreifen, die Lernenden etwas entfalten lassen, was sie gerade beschäftigt. Das kann ich nicht planen, es entsteht im Moment, es passt.

  2. Fehler machen, nachschlagen, vom Weg abkommen… 
    Etwas nicht können, und es doch versuchen. Zugeben, dass man etwas nicht weiß, und es jetzt nachschlagen muss oder jemanden bitten muss, es doch zu erklären. Einen geplanten Weg im richtigen Moment verlassen, weil sich ein Nebenpfad ergeben hat.
    Das braucht zuerst etwas Mut, ist dann aber eine ungeheure Befreiung. Lehrende, die so arbeiten, werden zu Vorbildern, weil sie nicht mehr eine Rolle spielen müssen.
  3. Nicht vermitteln, sondern machen lassen
    Wer lernt, gestaltet Lernprodukte. Unterricht ist ein Ort und eine Zeit, um an Lernprodukten zu arbeiten, gemeinsam, reflektiert, konzentriert. Diese Vorstellung ändert auch die eigene Bewertung einer Schulstunde: Gelungen ist sie nicht, wenn ich durchgekommen bin (dann denke ich nur von mir aus), sondern wenn die Lernenden etwas haben entstehen lassen.
  4. Unfertiges und Unsicherheiten zeigen und beurteilen lassen
    Im Internet publiziere ich oft Entwürfe für Texte oder Ideen für Präsentationen und frage, ob mir jemand Feedback geben mag. Niemand muss, aber oft machen das Menschen, die an ähnlichen Fragen arbeiten.
    Diese Methode lässt sich auch im Unterricht einsetzen: Ich zeige Studierenden ein Thema, zu dem ich einen Aufsatz schreibe, und bitte sie um ihre Meinung. Ich erzähle Klassen von Social-Media-Fällen, zu denen ich gerne die Perspektive von Jugendlichen hören möchte. »Expertise ist wenig wert ohne Perspektive«, hat Dejan bei #wildcampen19 gesagt. Agiler Unterricht schafft Raum für Perspektiven.

Nächste Schritte

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Sketchnote 2 von Wibke Tiedmann

In der Diskussion beim Workshop wurden viele Ideen geäußert, welche agiles Denken in der Lehre voranbringen können. Betont wurde, wie wichtig Vertrauen und Neugierde sind – auf alle Seiten hin. Hinter der Vorstellung von agilem Lernen und Lehren steckt ein Menschenbild, bei dem Lernen ein Bedürfnis ist, das sich seinen Weg bahnt. Die Vorstellung einiger Lehrkräfte, die Kinder und Jugendlichen wollten ja gar nichts lernen, deshalb müssten sie durch bestimmte Methoden dazu gebracht werden, ist in diesem Sinne irrig: Offenbar können diese Kinder und Jugendlichen in dem Setting nichts lernen (oder sie geben das vor). Also bräuchte es eine Lernumgebung, in der das möglich ist.

Selbstverständlich können wir als einzelne Personen nicht die ganze Lernumgebung bestimmten. Wir arbeiten an Schulen oder Instituten, an denen unterschiedliche Vorstellungen über Unterricht, Lernkultur und Menschen vorhanden sind. Ich halte Leistungsmessung an einer Schule und Universität für überflüssig und willkürlich, viele meiner Kolleginnen und Kollegen sehen das anders und finden sie sehr wichtig. Damit prägen sie auch die Schülerinnen und Schüler, die meinen Unterricht besuchen. Ich kann in meinem Arbeitsbereich agil arbeiten und meine Rolle agil interpretieren. Agile Schulentwicklung, Vertrauen, Neugierde und ein entsprechendes Menschenbild entstehen damit aber nicht zwingend.

Eine Bemerkung zur agilen Lehre an Hochschulen

An der Diessener Klausur habe ich mit einer Gruppe von Fachleuten über die Zukunft der Hochschule gesprochen. Ein wiederkehrender Gedanke war der, dass die Kultur der Digitalität dazu auffordert, Lehrveranstaltungen und Publikationen in Unreine zu konzipieren, also mit etwas zu arbeiten, was nicht fertig ist, was beim Lernen, Lehren, Lesen und Schreiben überarbeitet, reflektiert und verbessert wird.

Diese Arbeitsweise verhindert ein universitärer Habitus sehr oft: Professorale Rede ist nicht unrein, sondern bewusst gewählt, definitiv, überlegt. Ein Uni-Modul wird nicht mit den Studierenden zusammen konzipiert, sondern ist zertifiziert, in Modulpläne eingeordnet und mit Lernzielen und Credits ausgestattet. Eine Publikation wird nicht überarbeitet, sondern sie ist für die Ewigkeit geschrieben.

Dieses spezifische Problem kann eine Öffnung ins Netz lösen: Lehrangebote wie #relevanteliteraturwissenschaft sind offene, aktuelle Kollaborationen zwischen Lehrenden, die im Netz dokumentiert werden. Eine Entwicklung wird nicht versteckt, sondern sichtbar gemacht, Partizipation scheint erwünscht, nicht eine Einmischung zu sein.

Fazit

Wie gehen agil Lehrende mit der Unsicherheit und der Ungewissheit aus, was im Unterricht entsteht? – Auf diese Frage gibt es drei Antworten:

  1. Die Vorstellung eines Plans loszulassen, lindert die Unsicherheit.
  2. Die Ungewissheit ist eine Bereicherung: Es kann jederzeit etwas entstehen, womit ich nicht gerechnet habe. Guter Unterricht ist der, welcher Lehrende überrascht, ihre blinden Flecken aufzeigt, eine Gruppe weiterbringt. Das wird schnell spürbar.
  3. Agile Lehrende vernetzen sich: Sie erhalten so Wertschätzung und stützen sich. Sie haben keine Angst vor Kritik, sondern nutzen sie für ihr eigenes Lernen.

5 Kommentare

  1. Ralf_Carsten_Jann sagt:

    Hallo Philippe, ich danke dir für deine sehr gute Zusammenfassung. Hoffentlich lesen das viele klassische Ausbilder 😉

  2. Danke für den interessanten und inspirierenden Beitrag! Ist es nicht ein bisschen so, wie dort, wo der Begriff herkommt? An den Extremen begegnen sich Überforderung und Kompetenz auf einem schmalen Grat. Inkompetenz lässt sich auch mit akribischer Schulbuch-Planung nicht vollständig kompensieren, das Geplante gerät bei der geringsten Störung ausser Kontrolle und endet nicht selten in sich stets wiederholender Ergebnislosigkeit. Mittelmässige Kompetenz und/oder Unerfahrenheit lassen sich mit nach guten Regeln sorgfältig erfolgter Planung kontrollieren, Ziele werden deutlich besser erreicht und das Ergebnis ist für die Beteiligten zumindest befriedigend. Dort, wo ein «Master» eben meisterhaft agieren kann, erlaubt ihm seine Kompetenz spontanes Turnen, wendiges Agieren und flexibles Eingehen auf die dynamischen Bedürfnisse und Inspirationen der Umgebung. Er schöpft aus einem Vielfachen dessen, was eine jede Situation fordert, deshalb kann er «agil» vorgehen. Es erinnert mich an meinen eigenen Unterricht, der damals weniger reguliert und von Methoden geprägt war, wobei die fachlichen Unterschiede aber auch deutlich zu Tage traten. Bei erfahrenen und kompetenten Lehrpersonen lernte man auch dann viel und genoss den Unterricht, wenn sie didaktisch gegen alle Regeln verstiessen. Bei den hoffnungslosen Fällen half oft auch Planung nichts. Bereichernde Lern- und Lehrerfahrungen gab es dort, wo man schon in den Achtzigern agil unterrichtete – nur das Wort dafür kannten wir noch nicht.

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