Gestern habe ich im Rahmen einer Veranstaltung der Digitalen Gesellschaft Schweiz (wer in der Schweiz noch nicht Mitglied ist, sollte das werden) über zwei widersprüchliche Tendenzen gesprochen, die sich aus der Digitalisierung für das Bildungssystem ergeben.
Ich formuliere hier nicht den ganzen Vortrag aus – die Slides gibt es hier: phwa.ch/karl2019 – sondern fasse einfach den wesentlichen Gedanken zusammen, für den ich mich auf zwei Vorarbeiten stütze:
- Marek Ceglwoski: The Website Obesity Crisis (2015)
- Martin Lindner: Die Ver-Web-ung der Bildung (2016)
Geht Bildung im Netz von Personen aus, die autonom über ihr Lernen und ihr Bildungsnetzwerk bestimmen, würde ich von persönlicher Bildung sprechen. In diesem Sinne verwenden Menschen beim Lernen das Netz dazu, um Begegnungen zu schaffen, sich auszudrücken, von anderen Personen zu lernen. Kernvorstellung dieses Lernens ist das Netzwerk.
Geht die Bildung andererseits von Programmen und Unternehmen aus, die auf Plattformen gamifizierte Anreize schaffen, um die Aufmerksamkeit von Personen auf Lernprozesse zu lenken, würde ich dem personalisierte Bildung sagen. Menschen werden als Produzenten von Daten gesehen, die behavioristisch auf Reize reagieren, die Maschinen ihnen vorsetzen. Lernen bedeutet dann, korrekt mit einem Interface zu reagieren und sich in einer bestimmten Situation erwartungsgemäß bzw. standardisiert zu verhalten.
Die Bildungsrealität spielt sich heute entweder völlig unbehelligt von diesen Tendenzen ab, weil Digitalisierung noch keinen Einfluss auf diesen Bereich des Bildungssystems hatte, oder dann häufig auf einem Mittelweg. Dieser Mittelweg ist nicht falsch: Geschieht das selbstbestimmt, kann es sehr sinnvoll sein, auf Plattformen bestimmte Fertigkeiten zu trainieren. Letztlich muss aber der Gesamtrahmen von Menschen ausgehen, nicht von Plattformen, Programmen oder Unternehmen.
Ist die Idee der persönlichen Bildung eine idealistische, die erziehungswissenschaftlich nicht neu ist und durch die Digitalisierung lediglich eine neue Schlaufe einer Spirale durchlaufen hat, so stellt die personalisierte Bildung für das gesamte Bildungssystem eine Herausforderung dar, die man mit dem Duolingo-Test bezeichnen kann:
Wer in der Schule Französisch lernt, muss das in irgendeiner Form als wirksamer erleben als wenn sie oder er in dieser Zeit auf dem Smartphone mit Duolingo arbeiten würde.
Schulischer Unterricht oder Bildungsangebote jeder Art können diesen Test leicht mit Anwesenden durchführen. Er zeigt, welche Konkurrenz von der Plattform-Bildung her droht: Werden als Ressourcen im bestehenden System eingesetzt, so muss das Ziel darin bestehen, Lerneffekte zu ermöglichen, die auf digitalen Plattformen so nicht zu erreichen sind. Aus meiner Sicht muss das sozial geschehen: Lernen muss verschiedene Perspektiven koppeln, auf jeder Stufe deutlich machen, dass die Welt mit anderen Augen anders aussieht. Meine Prognose: Bildungsangebote, die nicht so aufgestellt sind, werden schnell verdrängt.