Die Bedeutung von Meinungsfreiheit wird heute stark verhandelt – unter anderem, weil die digitalen Plattformen jenseits der Massenmedien Kanäle eröffnet haben, um ein breites Publikum zu erreichen (und auch neue Formen von privater Regulierung vorführen). Die Frage, wie mit bestimmten Meinungen umzugehen ist, hat insbesondere durch die Alt-Right-Bewegung (hier eine sehenswerte Einordnung) an Bedeutung gewonnen.
Eine Sichtweise auf den Umgang mit Meinungen ist die Metapher vom »Marktplatz der Ideen«. Sie impliziert, verschiedene Sichtweisen oder Argumente würden auf einem Marktplatz angeboten. Wer den Markt besucht, kann sich selber ein Urteil bilden und die Ideen übernehmen (mit seiner Aufmerksamkeit »kaufen«), die überzeugen.
Die Marktplatz-Metapher wird oft mit Mills Vorstellungen der Meinungsfreiheit in Verbindung gebracht (explizit steht sie erstmals in einem US-Gerichtsurteil von 1953). Das ist einerseits einleuchtend, weil Mill ökonomisch Privatbesitz und Konkurrenz als Mittel gesehen hat, um den gesellschaftlichen Fortschritt zu befördern. In der Frage der Meinungsfreiheit hat er jedoch eine andere Position vertreten (Gordon hat das vor 20 Jahren schon präzise aufgearbeitet):
Solange nicht mit gleicher Freiheit, gleicher Energie und gleichem Talent Meinungen zum Ausdruck kommen, die der Demokratie ebenso günstig sind wie der Aristokratie, dem Privateigentum ebenso wie der Vermögensgleichheit, dem Zusammen arbeiten ebenso wie der Konkurrenz, dem Luxus wie der Abstinenz, dem Gemeinsinn und dem Individualismus, der Freiheit und der Disziplin, kurz, all den ständigen Gegensätzen des praktischen Lebens, besteht keine Aussicht, daß beide Elemente ihr Recht bekommen; vielmehr wird solange stets die Schale der einen steigen, wenn die der anderen sinkt. Die Wahrheit hängt in den großen praktischen Angelegenheiten des Lebens so stark von der Versöhnung und Vereinung (sic!) von Gegensätzen ab, daß nur wenige Menschen einen so umfassenden und unparteiischen Geist haben, daß sie den Ausgleich mit annähernder Korrektheit treffen. Darum muß man diesen dem rauhen Prozeß eines Kampfes zwischen feindlichen Parteien überlassen. Wenn eine der beiden Anschauungen über jede der eben erwähnten großen offenen Fragen einen besseren Anspruch als die andere hat, nicht nur geduldet, sondern ermutigt und unterstützt zu werden, so ist es sicher diejenige, die in jener Zeit und an ihrem Platz in der Minderheit ist. Denn das ist die Meinung, die für ihre Zeit die vernachlässigten Interessen vertritt und die Seite des menschlichen Lebens, die in Gefahr ist, in ihrem Rechtsanspruch gekürzt zu werden. (On Liberty, Hg. von Horst Brandt, S. 68)
Mill sieht also nicht die Entscheidung einer Marktverhandlung als entscheidend an, sondern fordert die Förderung von marginalisierten Meinungen (durch Maßnahmen, die er nicht klar formuliert).
Liest man Mill, dann wird ein erster Einwand gegen den Ideenmarkt deutlich: Die Entscheidungen einer Mehrheit verdecken Sichtweisen, die ebenfalls Gehör verdienen, gerade weil sie »vernachlässigte Interessen« vertreten.
Zwei weitere Einwände gegen diese Konzeption sind noch folgenschwerer: Wer auf einem Gemüsemarkt Produkte anbietet, hat zumindest ähnliche Absichten wie die Konkurrenz: Möglichst viel Gemüse zu verkaufen und damit Geld zu verdienen. Diese Ähnlichkeit der Intentionen führt zu einer gewissen Sicherheit der Marktbesucher: Wer einkauft, muss nicht befürchten, jemand verkaufe möglichst schlechtes Gemüse, um das Ansehen von Gemüsemärkten zu beschädigen, oder an einem Stand würden die Produkte mit Viren kontaminiert, um Spezialärztinnen Patienten zuzuführen.
Beim Marktplatz der Ideen gibt es diese vergleichbaren Intentionen nicht: Wir können nicht davon ausgehen, Menschen würden Ideen austauschen, um mit dem besten Argument zu überzeugen. Die Alt-Right-Bewegung setzt (ähnlich wie Propaganda in Diktaturen) gezielt Verfahren ein, um die Orientierung in der Gesellschaft zu erschweren, um Menschen daran zu hindern, überhaupt erkennen zu können, welches das beste Argument oder eine sinnvolle politische Handlung ist.
Kurz: Wer sich mit solchen Menschen auf einen »Marktplatz der Ideen« setzt, verhält sich wie die Gemüsehändlerin, die einen Verkaufsplatz mit Terroristen teilt, die den Gemüsestand aufgebaut haben, um einen geplanten Anschlag zu verstecken.

Ein dritter gewichtiger Einwand besteht in einer präzisen Analyse, wie sich Überzeugungen verbreiten. Die Marktplatz-Idee geht davon aus, dass Kundinnen und Kunden durch die Präsentation von Waren und zusätzliche Informationen wie Preise zu einer rationalen Entscheidung befähigt werden. Ich sehe mir alle Gurken an – und entscheide dann, welche ich kaufen will.
Meinungen übertragen sich in einem komplett anderen Prozess. Elisabeth Wehling hält das in ihrem Buch über »Politisches Framing« (längere Leseprobe) von 2016 klar fest:
Denken ist, entgegen landläufigen Meinungen und Mythen, nicht faktenbezogen und rational im klassischen Sinne. Wir treffen nie Entscheidungen, indem wir ›rein sachlich und objektiv‹ Fakten gegeneinander abwägen. Nie. Das gilt auch für die Politik. Frames, nicht Fakten, bedingen unser Entscheidungsverhalten.
Diese Tatsache ist aber zu über 90% der Fälle unbewusst: Menschen denken, sie würden sich ihre politische Meinung rational bilden, tun das aber nur ganz selten. Viel öfter ist ihr Denken durch (sprachliche) Bilder massiv beeinflusst. Wehling untersucht im Buch gezielt politische Frames, aus unterschiedlichen Gründen:
[Einige] aktivieren Frames, die im krassen Gegensatz zu unserer Gesetzes- und Rechtslage, und damit unserem demokratischen Common Sense, stehen oder zumindest davon abweichen. Und wieder andere kaschieren unstrittige Fakten kognitiv oder geben sie falsch wieder. [Passage leicht umgestellt]
Auf den »Marktplatz der Ideen« übertragen: Dort werden oft nicht Ideen oder Argumente einander gegenübergestellt, sondern Frames aktiviert.
Fassen wir zusammen: Die Vorstellung des Marktplatzes lässt sich für Debatten deshalb nicht halten, weil auf dem Marktplatz erstens wichtige Argumente kein Gehör erhalten, weil zweitens dort auch Parteien vertreten sind, die gar nicht an einem Abwägen von Ideen interessiert sind – und weil sich drittens in Diskussionen nicht die besten Argumente durchsetzen, sondern Frames in den Köpfen von Zuhörerinnen und Zuhörern aktiviert werden, ob sie wollen oder nicht.
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Laurie Penny und Nesrine Malik haben kürzlich dargelegt, weshalb sie auf öffentliche Debatten mit Vertreterinnen und Vertretern der Alt-Right verzichten würden. Ihr zentrales Argument: Es ist wichtiger, Bewegungen zu bekämpfen, die Fremden- und Frauenhass verbreiten und Demokratie wie auch den Rechtsstaat angreifen, als den Eindruck zu vermeiden, eine Form von Zensur zu fordern. Die Debatte mit der Alt-Right sei Narzissmus, schreibt Malik, während Penny von einer ohnehin schon verlorenen Unschuld spricht. Wer sich mit Menschen, die Menschenrechte infrage stellen und abschaffen wollen, auf eine Bühne setzt, kann noch so gute Argumente gegen ihre Ansichten vorbringen: Die gemeinsame Bühne besteht und sie ist es, die den problematischen Ansichten, Ansehen und Aufmerksamkeit verhilft. So verbreiten sie sich – komplett unabhängig davon, was man ihnen entgegenstellt. Und auch wenn die Grundrechte diesen Bewegungen zusichern, eigene Plattformen bewirtschaften zu dürfen, sind sie weder identisch mit der Präsenz in Qualitätsmedien, noch ist die so generierte Aufmerksamkeit ein Argument für die Relevanz dieser Ideen.
Die Zeugen Jehovas sind eine stark wachsende Glaubensgemeinschaft. Wer ihnen zuhören will, darf das. Aber wir sollten sie nicht in Fernsehsendungen einladen, um mit ihnen über Bluttransfusion zu sprechen.
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