Der Kompetenzbegriff – die Zopf-, Scheren- und Kreisdarstellung der OECD

Der Begriff der Kompetenz hat sich zwar in der bildungspolitischen Diskussion längst durchgesetzt, ist aber immer wieder Anlass für ähnliche Diskussionen. Das ist Anlass für mich, ein sinnvolles Verständnis des Begriffs Kompetenz zu umreißen.

Für den kompetenzorientierten Lehrplan 21 der Schweizer Volksschule ist die Definition von Weinert maßgebend (eine sinnvolle Quelle ist sein Aufsatz »Vergleichende Leistungsmessung in Schulen« von 2001, S. 27f.):

Unter Kompetenzen versteht man die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.

Die Definition zeigt: Die Unterscheidung von Kompetenzen und Wissen oder die Behauptung, Kompetenzen seien leer oder inhaltslos, sind in diesem Verständnis haltlos. Sie sind als Kritik an der schulischen Umsetzungen und Operationalisierungen der Kompetenzvorstellung teilweise berechtigt, treffen aber den so verstandenen Begriff der Kompetenz nicht. Kompetenz meint das Können – alles, was dazu gehört, dass Menschen mit Problemen umgehen können (»Probleme zu lösen« ist bei Weinert eine unglückliche Formulierung, weil die entscheidenden Probleme, sogenannte »wicked problems«, nicht gelöst werden können).

Der Kompetenzbegriff von Weinert geht zurück auf Arbeiten der OECD. Im OECD-Bericht »Global Competency for an Inclusive World« von 2017 findet sich die Zopfdarstellung des Kompetenzbegriffs (S. 2):

Zopfdarstellung der Kompetenz gemäß OECD
Zopfdarstellung der Kompetenz gemäß OECD

Im Text (S. 2) findet sich folgende Definition:

A competence is the ability to mobilise knowledge, skills, attitudes and values, alongside a reflective approach to the processes of learning, in order to engage with and act in the world.

Diese Konzeption ist in drei Hinsichten etwas schärfer als die von Weinert: Erstens benennt sie mit »action« oder »[to] act in the world« ein klares Ziel für Lernen und Kompetenzaufbau. Zweitens betont sie, dass Wissen, Fertigkeiten, Werte und Haltungen in Kompetenzen untrennbar verflochten sind. Und drittens integriert sie Reflexion in das Verständnis von Kompetenz (»an essential element of modern learning is the ability to reflect on the way one learns best«, S. 2).

Kompetenzen befähigen zum Handeln und zum Lernen. Sie sind zudem politisch, indem sie diskriminierende Strukturen sichtbar machen und so die unverzichtbaren Werte beeinflussen sollen.

Im neueren Bericht der OECD (The Future of Education and Skills, 2018, S. 4) enthält mit der Scherendarstellung eine Entwicklung der Zopfdarstellung. Diese löst die Spitze des Zopfes auf – Kompetenzen münden nicht mehr ausschließlich in Handlungen (»action«), sondern auch in »anticipation« (Erwartung, Vorbereitung) und »reflection«. Zudem wird gezeigt, dass die Kompetenzen sich in verschiedenen Gemeinschaften auswirken (darauf legt Harold Jarche in seinen Arbeiten immer wieder den Fokus, z.B. hier).

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Scherendarstellung, The Future of Education and Skills, S. 4

Im Hinblick auf die »global goals« gibt es noch eine dritte Darstellung in den Papieren der OECD. Die Kreisdarstellung stammt aus Preparing our youth for an inclusive and sustainable World – The OECD PISA global competence framework von 2018 (S. 11). Sie verbindet wiederum Wissen, Fertigkeiten, Werte und Haltungen, benennt dann aber vier Handlungs- und Kompetenzdimensionen, in denen sich die Kompetenz niederschlägt:

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Kreisdarstellung der Kompetenz gemäß OECD

Aus meiner Sicht bringt die Zopfdarstellung am direktesten und klarsten auf den Punkt, was ein zeitgmäßes Verständnis von Kompetenz ist. Für Schule und Unterricht ist diese Konzeption unverzichtbar: Nicht, weil Lernen einer wirtschaftlichen Verwertung untergeordnet werden soll, sondern weil Lernen nur dann sinnhaft sein kann, wenn es das Können von Lernenden erweitert. Die oft wahrgenommene Leere oder Inhaltslosigkeit ist nicht Resultat einer falschen Konzeption, sondern ergibt sich aus der Einsicht, dass die für ein bestimmtes Können oder Handeln relevanten Wissensbestände individuell gesucht und gefunden werden müssen.

Die Aspekte, welche in der Scheren- und Kreisdarstellung akzentuiert werden, sind für ein integrales Verständnis des Kontextes der Kompetenzentwicklung wichtig – sie dienen aber nicht primär der Klärung des Kompetenzbegriffs.

Für den Hinweis auf die Scherendarstellung danke ich Lisa Rosa: